© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/23 / 06. Januar 2023

Das Testament Richelieus
Vor hundert Jahren besetzten französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet zur Durchsetzung ihrer Reparationsansprüche
Karlheinz Weißmann

Die Besetzung der Ruhr im Januar 1923 wird von den üblichen Darstellungen zur Geschichte der Weimarer Republik eher en passant behandelt. Der Vorgang erscheint als ärgerliche Episode in der Nachkriegszeit, eine im Grunde unbegreifliche Maßnahme Frankreichs, Belgiens und Italiens gegen Deutschland, ausgelöst durch dessen Rückstand bei den Sachleistungen, die es als Reparationen zu liefern hatte. Tatbestände, so der Eindruck, die, für sich genommen, kaum Gewicht hatten, aber nun das Verhältnis der ehemaligen Kriegsgegner erneut belasteten und im Reich fatalen, nationalistischen Tendenzen Auftrieb verschafften.

Poincaré wollte langfristig das linke Rheinufer für Frankreich

Regelmäßig ausgeblendet wird dabei der Kontext, in den die Ruhrbesetzung gehört. Ein Zusammenhang, der den Zeitgenossen dagegen deutlich vor Augen stand. Unmittelbar nachdem französische und belgische Truppen in Essen eingerückt waren, gab der Reichstag mit großer Mehrheit eine Erklärung ab, in der es hieß: „Es handelt sich (…) um jenes alte Ziel, das seit mehr als vierhundert Jahren der französischen Politik eigen ist: Es ist jene Politik, die im Frühjahr 1919 in Versailles hinter verschlossenen Türen in hartem Kampf siegte, jene Politik der brutalen Expansion, die heute wie früher im Gewand des Rechts einherschreitet.“ Mit dem Text wurde der Behauptung von französischer Seite widersprochen, man halte sich lediglich an die Regeln, die im Versailler Vertrag niedergelegt worden seien, falls Deutschland seinen Verpflichtungen zur Wiedergutmachung nicht nachkomme. Eine Auffassung, die der üblichen Lesart – nicht nur der deutschen, sondern auch der britischen und der amerikanischen – widersprach, der zufolge Sanktionen nie im Alleingang, sondern nur von allen Siegermächten gemeinsam vollzogen werden durften. Noch größeres Gewicht hatte aber der Hinweis darauf, daß Paris eine politische Linie fortsetzte, die mit der Chiffre „Das Testament Richelieus“ bezeichnet wurde.

Gemeint war damit das von Frankreich – ganz gleich, ob König- oder Kaisertum oder Republik – seit dem 17. Jahrhundert kontinuierlich verfolgte Ziel, die eigene Hegemonie auf dem Kontinent zu sichern, indem Deutschland durch Aufspaltung schwach gehalten und die Rheinlinie als Ostgrenze gewonnen wurde. Ein Plan, dessen Realisierung Paris in der Endphase des Ersten Weltkriegs nahegekommen zu sein glaubte. Aber zur Enttäuschung sder Militärpartei, des Ministerpräsidenten Georges Clemenceau wie des Staatspräsidenten Raymond Poincaré gelang es nur, die Annexion Elsaß-Lothringens und eine vorübergehende Besetzung des Saargebiets sowie die Entmilitarisierung des Rheinlands durchzusetzen. Die Kontrolle der Ruhr – der „Waffenschmiede des Reiches“ – blieb Frankreich versagt, was in Paris noch größere Erbitterung auslöste als das Scheitern des Zugriffs auf das gesamte oberschlesische Bergbaugebiet, das man dem verbündeten Polen hatte ausliefern wollen.

Fehlschläge, die Poincaré nicht ruhen ließen, der am 14. Januar 1922 das Amt des Ministerpräsidenten übernahm und so in das Zentrum der Macht zurückkehrte. Schon zuvor hatte er einen Pressefeldzug begonnen, der immer wieder auf die fehlende „Sicherheit“ Frankreichs vor zukünftiger deutscher Aggression hinwies, die mangelnde Anstrengungsbereitschaft des Reiches im Hinblick auf die Reparationszahlungen kritisierte und den Zugriff auf „produktive Pfänder“ forderte. Daß er diesbezüglich das Ruhrgebiet im Blick hatte, verschwieg Poincaré so wenig wie die Tatsache, daß er eine Besetzung im größeren Zusammenhang der traditionellen Rheinpolitik Frankreichs sah. Nach dem Zeugnis eines führenden französischen Politikers – Edouard Herriot – war „die Ruhrbesetzung seit August 1922 eine beschlossene Sache“. Aber Poincaré hatte schon am 26. Juni 1922 gegenüber Journalisten geäußert: „Wir gehen ganz einfach, und ich fühle mich dabei sehr wohl, der dauernden Besetzung des linken Rheinufers entgegen. Mir für meinen Teil würde es wehe tun, wenn Deutschland zahlte, denn dann müßten wir das Rheinland räumen, und so würden wir den Nutzen unserer Versuche verlieren, die wir unternehmen, um friedlich, aber mit den Waffen in der Hand, die Bevölkerung am Ufer des Grenzflusses zu erobern.“

Im letzten Satz sprach Poincaré jene französische Politik an, die durch eine Kombination von Lockung und Drohung die Bewohner der von ihr kontrollierten deutschen Territorien für die Abtrennung vom Reich und die Schaffung von Protektoraten oder die Eingliederung in das französische Staatsgebiet zu gewinnen suchte. Ein Vorgehen, das zeitweise durchaus Erfolge verbuchen konnte, aber wegen der Brutalität der Separatisten und der unnachgiebigen Härte der Besatzungsmacht allmählich jede Resonanz einbüßte. Hinzu kam, daß auch französische Beobachter seit dem Scheitern sämtlicher Nachkriegskonferenzen, auf denen die Sieger über die Reparationen und die Art der Kontrolle des Besiegten verhandelt hatten, einen Umschwung der öffentlichen Meinung in Deutschland registrierten. 

Die „Politik der Erfüllung“, die von den Parteien der „Weimarer Koalition“ (SPD, Zentrum, linksliberale DDP) getragen wurde und guten Willen demonstrieren sollte, um die Unerfüllbarkeit der Forderungen des Versailler Vertrags unter Beweis zu stellen, geriet immer stärker in Mißkredit. Das hatte eine wesentliche Ursache in der Zuspitzung der Wirtschaftskrise, die Deutschland erfaßte und zu einer Inflation führte, die mit dem ökonomischen Kollaps enden mußte. Am 14. November 1922 trat die Regierung Joseph Wirths zurück, eine Woche später bildete der parteilose Wilhelm Cuno, Generaldirektor der Hamburg-Amerika-Linie, ein Kabinett, das im wesentlichen aus Fachleuten bestand und von der „verfassungstreuen Mitte“ – DDP, Zentrum und nationalliberale DVP – gestützt wurde.

Es wurde „in allen Volkskreisen als bitteres Unrecht empfunden“

Die Hoffnung, daß Männer „mit diskontfähiger Unterschrift“ eine Milderung des Drucks erreichen könnten, erwies sich aber rasch als Illusion. Auf der Londoner Konferenz, die vom 9. bis 11. Dezember tagte, wurden alle deutschen Vorschläge zur zeitweisen Entlastung und langfristigen Stabilisierung über einen internationalen Kredit für das Reich zurückgewiesen. Die USA und Großbritannien wendeten sich zwar gegen die Vorschläge Poincarés für ein härteres Vorgehen gegen Deutschland. Der fand aber die Unterstützung der gerade ins Amt gekommenen faschistischen Regierung Italiens. Damit war eine Konstellation gegeben, die bei der Sitzung der Reparationskommission am 9. Januar 1923 dahin führte, daß Frankreich zusammen mit Italien – gegen die Stimme Großbritanniens – feststellen ließ, daß Deutschland vorsätzlich mit der Ablieferung von Kohle und Holz, einige hunderttausend Telegraphenstangen im Rückstand sei. 

Am Folgetag teilte eine französisch-belgische Note Berlin mit, daß aufgrund dessen eine Kommission aus Ingenieuren zur Kontrolle des Kohlesyn-dikats ins Reich entsandt werden müsse, begleitet von Truppen zu ihrem Schutz. Am 11. Januar erfolgte stattdessen der Einmarsch von fünf französischen Divisionen und schweren Waffen, die zuerst Essen und dann das gesamte Ruhrgebiet besetzten. In Erklärungen an die Bevölkerung hieß es zwar, daß sie nichts zu befürchten habe, aber vorsorglich verhängte das französische Generalkommando den Ausnahmezustand und drohte bei Zuwiderhandlung harte und härteste Strafen an.

Die Wirkung auf die politische Lage in Deutschland war außerordentlich. Otto Braun, der sozialdemokratische Ministerpräsident Preußens, schrieb in seinen Lebenserinnerungen, daß Poincarés Vorgehen „in allen Volkskreisen als bitteres Unrecht empfunden“ wurde und nur zu erklären war mit dem „Ziel, Deutschland vollends zu vernichten“: „Ein Schrei der Empörung ging durch das ganze deutsche Volk, die auch mich, der ich stets gewohnt war, politische Ereignisse mit ruhiger Sachlichkeit zu beurteilen, ungemein packte.“