© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/23 / 06. Januar 2023

Spenglers Sumpf
Warum es sich lohnt, Oswald Spenglers Schrift „Neubau des deutschen Reiches“ heute wieder zu lesen
Thorsten Hinz

Den „Untergang des Abendlandes“ hielt Oswald Spengler für sicher. Mit dem Untergang Deutschlands mochte er sich dennoch nicht abfinden. Sonst hätte er sich die 1924 erschienene Programmschrift „Der Neubau des deutschen Reiches“ gewiß erspart.

Natürlich sah er Deutschland auf der Kippe, erkannte er die Flammenschrift an der Wand und übertrug sie in rhetorische Wucht. Die ersten drei Sätze seiner Schrift lauten: „Wenn ein ungeheures Unglück über einen Menschen hereinbricht, zeigt sich, wieviel Starkes und Gutes in ihm war. Wenn das Schicksal ein Volk zermalmt, offenbart es seine innere Größe oder Kleinheit. Erst die äußerste Gefahr gestattet keinen Irrtum mehr über den geschichtlichen Rang einer Nation.“ 

Bis 1914 hatte das Deutsche Reich einen scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg erlebt, um dann aus höchster Höhe abzustürzen. Der Weltkrieg, der mit einer Niederlage endete, die Revolution, der Versailler Vertrag, die Putsch-Versuche, Aufstände und Attentate, die Inflation, die soziale Deklassierung breiter Bevölkerungsschichten, das Elend der Kriegskrüppel – das sind Stationen eines freien Falls. Vor Augen standen Spengler auch der Untergang des Habsburgerreiches und die Ausrottung der russischen Oberschicht. 

Die Niederlage von 1918, schrieb er, habe in Deutschland „plötzlich eine Erbärmlichkeit (offenbart), die in der Weltgeschichte ohne Beispiel dasteht“. Die Selbstzerfleischung im Innern ging einher mit Unterwerfungsbereitschaft und tumbem Ungeschick nach außen. „Haben wir das verdient?“, fragte er. „Sind wir endlich dort, wohin uns der Volkscharakter verweist? Prahlerisch im Glück, würdelos im Unglück, roh gegen Schwächere, kriechend gegen Starke, schmutzig auf der Jagd nach Vorteilen, unzuverlässig, kleinlich, ohne sittliche Kraft, ohne echten Glauben an irgend etwas, ohne Vergangenheit, ohne Zukunft – sind wir das wirklich?“ Die Fragen waren rhetorisch gemeint, doch warum hielt er sie für angebracht? Die Antwort findet sich im ersten Kapitel, das überschrieben ist: „Der Sumpf“.

Spengler sah die Republik in die Hand einer Kaste unfähiger Parteienpolitiker gefallen, die „nicht gewählt wurde, sondern sich wählen ließ“. Seine Ablehnung des Parteienwesens und des Parlamentarismus galt nicht grundsätzlich; dem englischen Parlamentarismus im 19. Jahrhunderts zollte er höchstes Lob. Die deutsche Variante aber hielt er für unfähig. Das lag nicht nur an den agierenden Personen. Diese stellten nur die Essenz des deutschen Volkes dar, das „fleißig und patriotisch, aber weltfremd und politisch ahnungslos“ war. Die Ahnungslosigkeit hatte einsichtige Gründe, die mindestens zurück ins Kaiserreich reichten, dem Spengler mit keinem Wort nachtrauerte.

Die Parteien hatten sich den Staat zur Beute gemacht

Reichsgründer Fürst Bismarck hatte es unterlassen, die Parteien in die Praxis der Staatsgeschäfte einzubeziehen, so daß ihre Vertreter keine exekutiven Erfahrungen sammeln konnten. Die Parteipolitiker durften gegen die Regierung anmosern, doch „ein staatsmännischer, praktischer Ehrgeiz“ und ein auf das staatliche Ganze bezogenes Verantwortungsgefühl bildete sich nicht heraus. Die Sozialdemokraten kaprizierten sich auf den Klassenkampf, die Liberalen auf die Wirtschaftspolitik, das katholische Zentrum auf konfessionelle Fragen. Die „große Politik“ – die Außenpolitik – hingegen, „die einzige, die über das Dasein der Völker entscheidet“, geriet gar nicht erst in den Blick oder wurde aus untauglichen und verengten Perspektiven betrachtet. Am Ende hinterließ Bismarck eine hocheffiziente, aber „führerlose Maschine“, die im Grunde nur zur Verwaltungsarbeit taugte.

Diese Beschränktheit der Perspektive war ein Problem der gesamten Gesellschaft. Spengler bemängelte, daß die deutsche Großindustrie im Unterschied zur englischen kein entwickeltes politisches Bewußtsein besaß. Auch hatte sich in Deutschland keine Klub- oder Salonkultur wie in England und Frankreich herausgebildet, in der unterschiedliche Begabungen entdeckt, gefördert, protegiert und miteinander vernetzt wurden. Das deutsche Volk bildete eine „politisch unerzogene Masse“ in einem allzu schnell groß gewordenen Staat. (Daß Spengler sich reichlich aus Max Webers 1917/18 entstandenem Aufsatz „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland“, insbesondere aus dem Kapitel „Die Erbschaft Bismarcks“, bediente, sei nur angemerkt.)

Diese ungeübte Politikerklasse war jetzt mit der lebensgefährlichen Situation des Landes heillos überfordert. Mit überschießender Polemik nannte Spengler sie „Narren, Feiglinge und Verbrecher“, die meinten, „daß der Verzicht auf Weltpolitik vor ihren Folgen schütze“. Ihre im Grunde apolitische Geisteshaltung illustrierte er mit einem Zitat aus dem sozialdemokratischen Vorwärts vom 30. Oktober 1918: „Deutschland soll, das ist unser fester Wille, seine Kriegsflagge für immer streichen, ohne sie das letzte Mal siegreich heimgebracht zu haben.“

Außenpolitik wurde demnach als Parteipolitik betrieben, als eine „einträgliche Unternehmung von Privatpersonen auf eigene Faust“. Die Parteien seien „Erwerbsgesellschaften mit einem bezahlten Beamtenapparat“, die sich den Staat, das Land zur „Beute“ gemacht hatten: „Tausende von Posten wurden geschaffen, bis in die letzten Dörfer hinein.“ Während Deutschland kollabierte und sich „in eine Reparationskolonie, in ein europäisches Indien“ verwandelte, leistete die politische Klasse sich Regierungskrisen und Ministerstürze ohne Ende und ließ „sich als Vollzugsorgan von Gegnern legitimieren und seine Stellung damit von jeder inneren Krise unabhängig machen“.

Zum Opfer wurde die ortsgebundene Industrie und der laut Spengler nach 1918 weiterhin politisch dumm gebliebene Mittelstand, während das Finanzkapital und die „Halb- und Scheinindustrie“ von der Situation profitierten. Die standortgebundene Wirtschaft hatte unter einem „Steuerbolschewismus“ zu leiden: „In Deutschland wird der arbeitende Wirtschaftskörper durch eine Unzahl sich übersteigernder, kreuzender, sich wechselseitig vergiftender Steuern wie mit Messerstichen zerfleischt“, was zum „Verbrauch des unbeweglichen Nationalgutes samt der an ihm haftenden Schicht des Mittelstandes und der geschulten Intelligenz“ führe.

Auf die „nationale Rechte“, die sich als Treuhänderin der nationalen Interessen verstehe, könne man „nur in bitterer Sorge“ sehen. Es sei „ein folgenschwerer Irrtum konservativer Kreise gerade in revolutionären Zeiten (zu glauben), daß Ehrlichkeit, tadellose Gesinnung und Wärme des Gefühls einen Mangel an Intelligenz aufwiegen können“. Spengler kritisierte hier – wohlgemerkt – den Intelligenz-Mangel der Rechten, die sich beispielsweise keine Mühe machte, die Zusammenhänge der internationalen Wirtschaft zu begreifen.

Klare Position bezog er gegen die „völkische Bewegung“, die „Realpolitik auf Rassegefühle“ aufbauen wolle und sich damit „michelhaft und provinzial“ von Begabungen und Erfahrungen abschneide. Die Franzosen hatten mit Napoleon einen „Italiener“ (in Wahrheit: einen Korsen mit italienischen Wurzeln) an die Spitze gestellt, Englands großer Premier Benjamin Disraeli war Jude und Rußlands Zarin Katharina II. eine Deutsche gewesen.

Es braucht starke Persönlichkeiten mit Ideen und Zielen

Alles in allem war Spenglers Lageeinschätzung niederschmetternd. Die Republik war, wie gesagt, in seinen Augen „ein Sumpf“ und die Demokratie eine Farce, denn: „Der Staatsstreich und die Diktatur sind heute feste Bestandteile des politischen Handelns, um so mehr, als sie sich durchaus mit der Wahrung parlamentarischer Formen, sogar der englischen, vertragen.“

Am Anfang einer Rettung mußte laut Spengler die Einsicht stehen, daß die Zukunft allein vom „Vorhandensein und Wollen starker Persönlichkeiten“, vom „Dasein oder Nichtsein einzelner Männer, ihren persönlichen Entschlüssen, Ideen und Zielen“, abhängt. Der Spengler-Kenner Rolf Hochhuth leitete daraus seine Bühnen-Ästhetik ab und erklärte – Georg Lukács zitierend –, daß „der konkrete, der besondere Mensch das Primäre, der Ausgangs- und Endpunkt des Gestaltens“ sein müsse. Adorno warf ihm vor, die Wirklichkeit zu verkennen, denn es existierten in der modernen Massengesellschaft nur noch die „Beckettschen Menschenstümpfe“, die „in das Zwanghafte eines Prozesses“ und in die „Absurdität des Realen“ eingebunden sind. Tatsächlich erwies der Cäsarismus, der sich 1933 als Retter präsentierte, als das, was Spengler die „Organisation der Arbeitslosen durch die Arbeitsscheuen“ nannte und führte vom Sumpf in den Abgrund.

Die Frage, was Spenglers Schrift uns fast hundert Jahre später über die „Absurdität des Realen“ lehrt, besitzt Brisanz.

Oswald Spengler: Neubau des deutschen Reiches. Zenodot Verlagsgesellschaft, Berlin 2016, gebunden, 100 Seiten, 16,80 Euro