Die meisten der zahlreichen Biographien des Philosophen und Kulturtheoretikers Walter Benjamin (1892–1940) interpretieren seinen 1926/27 in Moskau verbrachten Aufenthalt als definitive Abkehr vom orthodoxen Marxismus. Aufgebrochen in der Hoffnung, in der Sowjetunion bessere Gründe als im heimatlichen Berlin zu finden, um endlich mit Überzeugung der KPD beitreten zu können, sei er enttäuscht zurückgekehrt. Auf die Mitgliedschaft habe er daher verzichtet, weil die Moskauer Realitäten nicht den auf eine sozialistische Utopie fixierten Erwartungen dieses Linksintellektuellen entsprochen hätten. Sein erst 1980 veröffentlichtes „Moskauer Tagebuch“ scheint diese Deutung zu stützen, zumal Benjamin Moskau an einem historischen Wendepunkt erlebte, als Stalins Alleinherrschaft sich ankündigte, die mit der für den deutsch-jüdischen Denker so anziehenden avantgardistischen Kunst- und Kulturszene des „roten Rußland“ gründlich aufräumte. Trotzdem ist für den Literaturwissenschaftler Johannes Balve der Gehalt des „Moskauer Tagebuchs“ damit lange nicht ausgeschöpft. Lasse es sich doch gerade heute, wo angesichts des Ukrainekrieges für die bundesdeutsche Linke ein falsches, aber „jahrzehntelang perpetuiertes Rußlandbild“ zerbreche, als lehrreiches Modell einer hermeneutisch zu verstehenden „Auseinandersetzung mit dem Anderen der fremden Kultur“ lesen. So aufgefaßt, sei dieses „Tagebuch“ eine Anleitung zum differenzierten Umgang mit fremden Kulturen, in dem verfestigte Positionen reflektiert und eventuell so korrigiert werden können, daß sich daraus neue Perspektiven auf die eigene Kultur ergeben würden (Lettre International, 139/2022).