Der Vorgänger von Benedikt XVI. auf Petrus Lehrstuhl gilt vielen als großer Sozialethiker, der in Kirche und Politik hineinwirkte. Ein Mann der großen Gesten, der als Johannes Paul II. das Lebensrecht und die Freiheit wortgewaltig immer wieder unüberhörbar auf die Tagesordnung setzte und der mit seiner „Theologie des Leibes“ die Kostbarkeit einer respektvollen und die Menschenwürde achtenden verantwortungsvollen Sexualität wider alle billige Sexualisierung zu erschließen verstand. Als sein engster Vertrauter, Joseph Kardinal Ratzinger, 2005 ihm nachfolgte, konnte man die Einheit beider Pontifikate bereits ahnen. Zurückhaltend in den Gesten, fein und geradezu zärtlich ziseliert in der für alle verständlichen Sprache, setzte Benedikt XVI. mit leiser und dennoch ebenso unüberhörbarer Stimme als luzider Theologe das begonnene Werk fort.
Er wurde in nur wenigen Jahren als Petrusnachfolger bis zu seinem Amtsverzicht 2013 zum Kirchenlehrer. Und weil er, dessen bischöflicher Wahlspruch „Cooperatores veritatis“ – Wir sind Mitarbeiter der Wahrheit – war, sich niemals abbringen ließ von der in der Heiligen Schrift geoffenbarten Erkenntnis, daß Jesus Christus der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, schieden und scheiden sich an ihm die Geister. Ein Jahrhunderttheologe. Ein zutiefst demütiger großer Geist, der zuhören konnte, der geistige Strömungen erkannte und analysierte, ein bis in die letzte Faser seines Wesens geradezu vom Vertrauen auf den barmherzigen Vater und Seinen Gottessohn Durchseelter.
Im gesegneten Alter von 95 Jahren endete das irdische Leben von Benedikt XVI., der als Joseph Aloisius Ratzinger am Karsamstag 1927 in Marktl am Inn das (vor)österliche Licht der Welt erblickte und als Papa emeritus am Silvestertag 2022 ins lichtreiche himmlische Jerusalem gerufen wurde. Wie von selbst drängt sich in die Erinnerung, was dieser Petrusnachfolger als Pontifex Maximus zu Beginn seines römischen Universaldienstes 2005 ebenso einfach wie prophetisch wahr so formulierte: „Und erst wo Gott gesehen wird, beginnt das Leben richtig. Erst wo wir dem lebendigen Gott in Christus begegnen, lernen wir, was Leben ist. Wir sind nicht das zufällige und sinnlose Produkt der Evolution. Jeder von uns ist Frucht eines Gedanken Gottes. Jeder ist gewollt, jeder ist geliebt, jeder ist gebraucht. Es gibt nichts Schöneres, als vom Evangelium, von Christus gefunden zu werden. Es gibt nichts Schöneres, als ihn zu kennen und anderen die Freundschaft mit ihm zu schenken.“
Der hochbegabte Joseph Ratzinger begab sich schon als junger Theologe auf die unbeirrte und einfühlsame Suche nach der Wahrheit. Professor in Bonn, Münster, Tübingen und Regensburg, Konzilstheologe als enger Berater des Kölner Erzbischofs und Konzilsvaters Josef Kardinal Frings, Erzbischof von München und Freising und dann als Vertrauter und rechte Hand des Heiligen Johannes Pauls II. Präfekt der Glaubenskongregation. Er, der so viel wußte, erhob sich niemals über andere. Vielmehr drängte es ihn, die Schönheit der Glaubensfülle anderen herzensstark und lichtvoll weiterzureichen.
Er, der seine Liebe zur ehrfürchtig gefeierten Liturgie immer wieder erkennen ließ, erkannte in der Feier der Eucharistie, wie er dem Autor in einem längeren Fernsehgespräch 1998 sagte, „zunächst einmal die Vorbereitung auf die Auferstehung. Die alten Mönche haben das ja so aufgefaßt, daß man in der Liturgie sozusagen ein Stück vom Paradies vorwegnimmt, weil man nämlich bei dem mittut, was im Himmel geschieht, sich um den Herrn versammeln und mit ihm singen – und er zeigt sich uns selbst und gibt sich uns selbst. Insofern ist das also der Einbruch des Lebens und nicht des Todes. Aber man kann es auch von der anderen Seite her betrachten und sagen, damit werden wir auch reif dafür, sozusagen den jetzigen Status nicht als das Letzte anzusehen, sondern zu wissen, daß das Leben auf andere Weise weitergehen wird und daß wir es so leben müssen, daß wir uns darauf freuen können.“
Ratzingers Antwort auf die Frage, wie er sich denn selbst auf das Sterben und den Tod vorbereite, macht nach seinem Heimgang deutlich, wie sehr seine wissenschaftliche Lehre von den Letzten Dingen auch von ihm selbst gelebt wurde:„Ich versuche einfach, meine Aufgabe recht zu tun und die Beziehung zum lebendigen Gott nicht zu verlieren. Dann, denke ich, ist man auf dem richtigen Weg, wenn man nämlich auf dem Weg zum richtigen Leben ist, dann ist man auf dem richtigen Weg zum Sterben.“ Und, so sagte der große Theologe, er habe „irgendwie schon“ Angst vor dem Tod, „weil natürlich das Bewußtsein, daß man vieles auch falsch gemacht hat, daß man Sünder ist, wie die Sprache der Kirche es ausdrückt, je älter man wird, um so stärker da ist, um so stärker sieht man auch das Versagen im eigenen Leben, um so realistischer erkennt man, wo man zurückgeblieben ist, gerade auch anderen Menschen gegenüber, denen man etwas schuldig war. Diese Negativseiten des eigenen Kontos können Furcht erregen. Aber ich halte mich dann an den heiligen Ambrosius, der gesagt hat, ich habe trotzdem keine Furcht vor dem Gericht, obwohl ich ein großer Sünder bin, denn ich weiß, daß wir einen sehr guten Herrn haben.“
Nicht nur seine Enzykliken über die Liebe, die Hoffnung und die Wahrheit enthalten aus tiefstem Glauben heraus kluge Hinweise für ein gelingendes Leben in Freiheit und Frieden. Nicht zuletzt seine Rede im Deutschen Bundestag im September 2011 enthielt viele konkrete Wegweisungen. Er erinnerte an den jungen König Salomon, der von Gott bei der Thronbesteigung einen Wunsch freigestellt bekam. Und dieser wünsche sich nicht Erfolg, Reichtum oder ein langes Leben, sondern bat: „Verleih deinem Knecht ein hörendes Herz, damit er dein Volk zu regieren und das Gute vom Bösen zu unterscheiden versteht“ (1 Kön 3,9).
Die sich daraus entfaltende Lehrrede des Theologen war typisch für Benedikt: „Die Bibel will uns mit dieser Erzählung sagen, worauf es für einen Politiker letztlich ankommen muß. Sein letzter Maßstab und der Grund für seine Arbeit als Politiker darf nicht der Erfolg und schon gar nicht materieller Gewinn sein. Die Politik muß Mühen um Gerechtigkeit sein und so die Grundvoraussetzung für Friede schaffen. Natürlich wird ein Politiker den Erfolg suchen, der ihm überhaupt die Möglichkeit politischer Gestaltung eröffnet. Aber der Erfolg ist dem Maßstab der Gerechtigkeit, dem Willen zum Recht und dem Verstehen für das Recht untergeordnet. Erfolg kann auch Verführung sein und kann so den Weg auftun für die Verfälschung des Rechts, für die Zerstörung der Gerechtigkeit. ‘Nimm das Recht weg – was ist dann ein Staat noch anderes als eine große Räuberbande’, hat der heilige Augustinus einmal gesagt.“
Der Papst schrieb (nicht nur) den Deutschen ins Stammbuch: „Dem Recht zu dienen und der Herrschaft des Unrechts zu wehren ist und bleibt die grundlegende Aufgabe des Politikers. In einer historischen Stunde, in der dem Menschen Macht zugefallen ist, die bisher nicht vorstellbar war, wird diese Aufgabe besonders dringlich. Der Mensch kann die Welt zerstören. Er kann sich selbst manipulieren. Er kann sozusagen Menschen machen und Menschen vom Menschsein ausschließen. Wie erkennen wir, was recht ist? Wie können wir zwischen Gut und Böse, zwischen wahrem Recht und Scheinrecht unterscheiden? Die salomonische Bitte bleibt die entscheidende Frage, vor der der Politiker und die Politik auch heute stehen.“
Benedikt sprach vom Gewissen, das nichts anderes sei „als das hörende Herz Salomons, als die der Sprache des Seins geöffnete Vernunft“. Und er stellte eine Frage, deren Antwort bis heute und immer wieder gefunden werden muß und kann: „Aber wie geht das? Wie finden wir in die Weite, ins Ganze? Wie kann die Vernunft wieder ihre Größe finden, ohne ins Irrationale abzugleiten? Wie kann die Natur wieder in ihrer wahren Tiefe, in ihrem Anspruch und mit ihrer Weisung erscheinen? (…) Ich würde sagen, daß das Auftreten der ökologischen Bewegung in der deutschen Politik seit den siebziger Jahren zwar wohl nicht Fenster aufgerissen hat, aber ein Schrei nach frischer Luft gewesen ist und bleibt, den man nicht überhören darf und nicht beiseite schieben kann, weil man zu viel Irrationales darin findet. Jungen Menschen war bewußt geworden, daß irgend etwas in unserem Umgang mit der Natur nicht stimmt. Daß Materie nicht nur Material für unser Machen ist, sondern daß die Erde selbst ihre Würde in sich trägt und wir ihrer Weisung folgen müssen.“
Die Bedeutung der Ökologie sei inzwischen unbestritten: „Wir müssen auf die Sprache der Natur hören und entsprechend antworten.“ Was er dann aber sagte, wurde und wird bis heute geflissentlich überhört – und offenbart einen eklatanten Bruch in der Logik heutiger Politik: „Ich möchte aber nachdrücklich einen Punkt noch ansprechen, der nach wie vor weitgehend ausgeklammert wird: Es gibt auch eine Ökologie des Menschen. Auch der Mensch hat eine Natur, die er achten muß und die er nicht beliebig manipulieren kann. Der Mensch ist nicht nur sich selbst machende Freiheit. Der Mensch macht sich nicht selbst. Er ist Geist und Wille, aber er ist auch Natur, und sein Wille ist dann recht, wenn er auf die Natur hört, sie achtet und sich annimmt als der, der er ist und der sich nicht selbst gemacht hat. Gerade so und nur so vollzieht sich wahre menschliche Freiheit.“
Seine Frage bleibt bohrend: „Ist es wirklich sinnlos zu bedenken, ob die objektive Vernunft, die sich in der Natur zeigt, nicht eine schöpferische Vernunft, einen Creator Spiritus voraussetzt? An dieser Stelle müßte uns das kulturelle Erbe Europas zu Hilfe kommen. Von der Überzeugung eines Schöpfergottes her ist die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Menschen und das Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt worden.“ Diese Erkenntnisse der Vernunft „zu ignorieren oder als bloße Vergangenheit zu betrachten, wäre eine Amputation unserer Kultur insgesamt und würde sie ihrer Ganzheit berauben“. Der Papst sprach wohl auch über sich selbst, als er schließlich sagte: „Ich denke, auch heute könnten wir letztlich nichts anderes wünschen als ein hörendes Herz – die Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden und so wahres Recht zu setzen, der Gerechtigkeit zu dienen und dem Frieden.“
Wie ein roter Faden zieht sich die Verknüpfung von Glaube und Vernunft sowie Wahrheit und Schönheit durch seine Botschaften. Joseph Ratzinger, Benedikt XVI. war verständlich, unbequem, klar und einladend. Vor allem aber war er ein edler Mensch, bei dem man in geradezu musikalischer Harmonie erfahren und lernen konnte, wie aufbauend und lebensfroh, ja, wie befreiend und stärkend die Liebe zur Wahrheit sein kann. Vater Benedikt war und bleibt ein Kirchenlehrer, ein lichtreicher Diener der Wahrheit, die das Tor zur wirklichen Freiheit aufschließt. Er war gleichsam eine mit Weisheit gefüllte Inkarnation des hörenden Herzens.
Martin Lohmann, Jahrgang 1957, ist Theologe, Historiker und Publizist. Er kannte Joseph Ratzinger seit Mitte der 1980er Jahre und ist ihm bis zuletzt immer wieder begegnet. Für Lohmann, der zum Neuen Schülerkreis Joseph Ratzinger/Benedikt XVI. gehört und mehrere Bücher über Benedikt schrieb, wurde der jetzt Verstorbene zu einem vertrauten und prägenden „Vater Benedikt“.