© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/23 / 06. Januar 2023

Etwas ist faul im Staate
Besuch bei Graf Nikolai Tolstoi (Teil 2): Der Historiker über sein Kosakenbuch-Buch „Stalins Rache“ / „Das Buch ist so peinlich für die britische Regierung und sogar für britische Verleger und Zeitungsredakteure, daß ich mich an einen amerikanischen Verlag wenden mußte“
Annalisa Oehler

Das Ziel meines Besuchs bei Graf Nikolai Tolstoi in England war eigentlich, ein Gespräch über sein jüngstes Buch „Stalin’s Vengeance“ (Stalins Rache) zu führen. Aber in den vielen Stunden, die wir in seiner gemütlichen Bibliothek saßen, sprachen wir auch von der Flucht seines Vaters vor den Bolschewisten, seine Werke als Historiker und wie es dazu kam, daß er eigentlich nicht das Buch hätte schreiben dürfen und unser Gespräch illegal ist (siehe JF 52/22–1/23). 

Ich wußte bereits, daß sich Graf Tolstoi vor einigen Jahrzehnten einer Verleumdungsklage vor den englischen Gerichten stellen mußte. Nur war mir nicht klar, daß dieser Prozeß bis heute noch Konsequenzen haben würde. Der Kern des Falles war, daß er unangenehme Tatsachen über das Verhalten des britischen Militärs in der Lienzer Kosakentragödie zu Ende des Zweiten Weltkrieges an die Öffentlichkeit gebracht hatte, in der Zigtausende Unschuldige an die Sowjets ausgeliefert worden waren, was in vielen Fällen den sicheren Tod bedeutete. 

„Lassen Sie mich erklären, wie es dazu kam, daß ich heute in so einer besonderen Situation bin. Ich hatte mich viele Jahre nicht mehr mit dem Thema befaßt. Aber in den frühen 1970er Jahren wurden dann Dokumente aus den britischen Archiven zu der Sache veröffentlicht und einige Interessierte besprachen deren Inhalte öffentlich. Ich entschied mich, aufgrund der neuen Beweise mein erstes Buch ‘Die Verratenen von Jalta’ zu schreiben“, berichtet er. Dafür befragte er viele Zeitzeugen. 

„Der Richter schien parteiisch für Lord Aldington zu sein“

Das Buch, in dem er die Hintergründe der Auslieferung sowjetischer Bürger an Stalin durch die britische Armee analysierte, war damals ein Erfolg in England und erregte viel Aufmerksamkeit und Diskussionen in den Zeitungen wie im Fernsehen. „Die Menschen waren über das Geschehene erschüttert“, so Tolstoi. In den 80ern wurde dann sogar mit der Hilfe von Spenden der Bevölkerung ein Denkmal für die Opfer von Jalta in Zentral-London errichtet. „Es kam auch ein Scheck von Nummer 10 Downing Street. Margaret Thatcher spendete 200 Pfund für das Denkmal“, erklärt Tolstoi stolz. 

Der Graf erzählt mir, daß ihm nach der Veröffentlichung des ersten Buches immer mehr Dokumente zu „Operation Keelhaul“, so der offizielle Begriff für die Zwangsrepatriierung von Sowjetbürgern, in die Hände fielen. „Viele Dokumente kamen auch aus den Vereinigten Staaten und warfen ein neues Licht auf das, was damals mit den Kosaken in Lienz passiert war.“ Tolstoi schrieb daraufhin ein weiteres Buch „The Minister and the Massacres“ (Der Minister und die Massaker), das 1986 veröffentlicht wurde.

In diesem Buch konnte er zum ersten Mal drei individuelle Verantwortliche für die Tragödie identifizieren. „Die neuen Beweise belegten, daß ­Harold Macmillan, General Charles Keightley und Brigadier Toby Low – später bekannt als Lord Aldington, die Hauptverantwortlichen für die Auslieferung Tausender Zivilisten in Österreich an die Rote Armee waren“, sagt er. Macmillan, der später in den 50er Jahren Premierminister wurde, war damals der im Mittelmeerraum ansässige Minister für die Regierung von Winston Churchill. General Charles Keightley trug die Verantwortung für die Truppen in Österreich und Italien, und Lord Aldington war damals der Stabschef der britischen Armee in Österreich. 

„In Jalta wurde vereinbart, daß alle sowjetischen Staatsbürger zurückgeschickt werden sollten, aber viele der Kosaken waren keine sowjetischen Staatsbürger, sondern außerhalb der Sowjetunion geboren, so wie mein Vater, der während des Bürgerkriegs geflohen war. Als die Sowjets zum ersten Mal auch die Russen forderten, die auf der Weißen Seite, gegen die Kommunisten waren, sagte ­Keightley zunächst, nur über meine Leiche. Dann flog Macmillan nach Österreich, um ihm den geheimen Befehl zu geben, alle auszuliefern, auch die Menschen russischer Abstammung, die keine Sowjetbürger waren. Lord Aldington ließ diesen Befehl dann ausführen“, erklärt er weiter. „Das war gegen die Genfer Konvention und ein Kriegsverbrechen, denn es bedeutete für die meisten Versklavung, Folterung oder Tod.“ 

Macmillan und Keightley waren zu dem Zeitpunkt der Veröffentlichung bereits verstorben und Lord Aldington, der mittlerweile ein hohes Tier bei den Konservativen war, hatte die Anschuldigungen gegen ihn zunächst ignoriert. Durch eine Anzeige in der Zeitung hatte Tolstoi den Kontakt zu Nigel Watts aufgebaut. „Es stand dort, daß sich jemand, der Informationen zu Lord Aldington und den Geschehnissen am Ende des Zweiten Weltkrieges habe, bei ihm melden sollte. Ich dachte, es ging um ein weiteres Buch zu dem Thema und schrieb ihm.“ Es stellte sich dann schnell heraus, daß Watts geschäftliche Streitigkeiten mit der Sun Alliance-Versicherung hatte, deren Vorstandsvorsitzender Lord Aldington war und die Geschehnisse für seine Sache nutzen wollte. „Ich unterstützte ihn und war verantwortlich für den Inhalt der Broschüren, die dann in Aldingtons Kreisen verteilt wurden.“ Watts hatte über 10.000 Exemplare drucken lassen, in denen Aldington als Kriegsverbrecher bezeichnet wurde. „Das war sehr peinlich für Lord Aldington. Ihm wurde empfohlen, Watts wegen Verleumdung zu verklagen. Mich wollte er ursprünglich nicht verklagen.“ 

Tolstoi bestand darauf, daß er sich gemeinsam mit Watts vor Gericht verantworten wolle. Er begrüßte sogar die Maßnahme. „Ich hatte den naiven Glauben, daß es in England Gerechtigkeit gibt.“ Der Prozeß begann Ende 1989 und dauerte drei Monate. „Aber von dem Moment an, als wir im Gericht ankamen, wußten wir, daß etwas nicht stimmte. Die Öffentlichkeit war nicht zugelassen, und der Richter schien parteiisch für Lord ­Aldington. Unsere Beweise sollten nicht gehört werden.“ Schlußendlich entschieden die Geschworenen gegen Tolstoi und er wurde zu einer Zahlung von zwei Millionen Pfund verurteilt, was den Bankrott für ihn bedeutete. Jegliche Berufungsversuche wurden zurückgewiesen.

„Ich glaube, daß das Auswärtige Amt und das Verteidigungsministerium dafür verantwortlich waren, meinen Fall vor den englischen Gerichten zu behindern. Ebenfalls interessant war, daß vor Beginn des Prozesses die Regierung eine Kommission ernannt hatte, die die ganze Angelegenheit untersuchen sollte. Ein sogenannter Bericht wurde kurz danach veröffentlicht, indem es hieß, alles, was ich geschrieben hatte, sei gelogen und völlig unwahr, und die Beweise seien gefälscht.“ Tolstoi geht davon aus, daß dies auch die Geschworenen beeinflußt haben könnte. 

„Durch einen Kontakt fand ich später heraus, daß der Mann von der Kommission in Wirklichkeit ein Mitglied des MI6 war und daß die Regierung sich während des gesamten Prozesses mit ­Aldingtons Anwälten beraten hatte.“ 

Die Justiz verpaßte Tolstoi einen Maulkorb durch eine einstweilige Verfügung. Er dürfe die „verleumderischen Dinge“, die er gesagt habe und jede Kritik an Lord Aldington nicht wiederholen, weil das sonst ein Verstoß der Verfügung sei und er ohne Prozeß für unbestimmte Zeit ins Gefängnis gesteckt werden könnte. „Mein Anwalt hat mir gesagt, daß ich die erste Person bin, gegen die eine einstweilige Verfügung auf diese Weise angewendet wurde. Es gibt kein weiteres Beispiel dieser Art“, erklärt er und zeigt sich auch nach so vielen Jahren noch erstaunt. Obwohl es für ihn eigentlich illegal ist, über das Thema je wieder zu sprechen, entschied er vor einiger Zeit, sich erneut mit dem Thema zu befassen. 

„In meinem ersten Buch habe ich erwähnt, daß ein Problem bei diesem Thema darin besteht, daß wir nicht wissen, was sich in den russischen Archiven befindet, so daß uns die Hälfte der Geschichte immer noch verborgen ist.“

Der Autor Alexander Solschenizyn war ein Befürworter und Unterstützer Tolstois, und die beiden standen in Kontakt. „Als meine Frau und ich ihn einst in seiner Moskauer Wohnung besuchten, begrüßte er mich auf russisch mit den Worten ‘mein Held’.“ Für den Grafen ist dies eine besondere Ehre. Solschenizyn hatte die Geschehnisse der Auslieferung bereits in seinem Werk „Der Archipel Gulag“ erwähnt. „Vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte er dafür gesorgt, daß Teile meiner Arbeit von einem Emigrantenverlag in Paris ins Russische übersetzt und Kopien ins Land geschmuggelt wurden.“ Es war Solschenizyn, der Boris Jelzin in den 1990ern von Tolstois Fall berichtete, und der Anti-Kommunist wollte ihm daraufhin unbedingt helfen. „Ich hatte dreimal Jelzins Kanzleichef hier am Telefon, der mir Hilfe anbot. Die ersten beiden Male habe ich ihm gesagt, daß ich sehr dankbar sei, mir aber nichts einfalle. Die Engländer nehmen nicht zur Kenntnis, was Rußland sagt. Aber beim dritten Mal sagte der Mann: ‘Nun, der Präsident fragt, ob es Ihnen helfen würde, wenn Sie alle unsere Geheimarchive zu diesem Thema sehen könnten’.“ 

Seltene Einblicke in die russischen Geheimarchive 

Der Graf kann sich ein Lachen nicht verkneifen.„Ich war so aufgeregt und freute mich. Schließlich flog ich nach Moskau, ein offizieller Wagen brachte mich nacheinander zu jedem Ministerium, und sie hatten all diese Unterlagen bereit, und alles, was ich wollte, würden sie sofort fotokopieren. So kam ich mit dieser Fundgrube aus den russischen Archiven zurück“, berichtet er stolz.

„Seit dem Regime Putins sind natürlich alle diese Archive wieder geschlossen, so daß es ein Segen für mich war, dieses Fenster für ein paar Jahre offen gehabt zu haben. Die einzigen Kopien außerhalb Rußlands sind die, die ich habe. Dann wurde mir klar, daß ich ein weiteres Buch schreiben mußte, denn nun kannte ich die andere Hälfte der Geschichte.“ 

Er erzählt mir, daß er mit „Stalin’s Vengeance“ (Stalins Rache) nun die Dokumente aus den Geheimarchiven verarbeitet. „Das Tolle an diesem Buch ist, daß ich früher sagen mußte, ‘Ich glaube, daß die Sowjets das getan haben.’ Jetzt kann ich die Dokumente zitieren und genau zeigen, was vor sich ging. Die russischen Aufzeichnungen geben all meinen schwerwiegenderen Behauptungen recht.“ 

Für ihn ist es prekär, abermals das Thema aufzurollen. Aber entschloß sich dennoch dafür. „Was mich schützt, ist, daß die Regierung Angst hat, mich anzugreifen. Das Buch ist so peinlich für die britische Regierung und sogar für britische Verleger und Zeitungsredakteure, daß ich mich an einen amerikanischen Verlag wenden mußte. Und in Amerika verbietet die US-Verfassung die Zensur, wie sie in England üblich ist.“ 

Für Tolstoi ist es schade, daß keine britische Zeitung es wagen würde, das Buch zu rezensieren. „Einerseits kann ich sagen, was ich will, weil ich weiß, daß sie Angst vor mir haben, aber andererseits ist es sehr frustrierend, weil es bedeutet, daß die Öffentlichkeit nicht weiß, was herausgekommen ist. Aber das Buch ist draußen, die Geschichte ist da, und sie können nicht jedes einzelne Exemplar vernichten.“

Zum Abschluß unseres Gesprächs frage ich ihn, ob er die Konsequenzen bedauert. Seine Antwort war ein klares „Nein“. „Ich glaube in Anführungszeichen an historische Wahrheiten – wir kennen nie die ganze Wahrheit. Ich kannte so viele der Überlebenden und wußte, was es für sie bedeutete, daß die Geschichte ans Licht kam. Das ist von enormer Bedeutung, und sie dürfen nicht vergessen werden.“

Nikolai Tolstoi: Stalin’s Vengeance (Stalins Rache). Die endgültige Wahrheit über die erzwungene Rückkehr der Kosaken nach dem Zweiten Weltkrieg. Academica Press, Washington 2021, gebunden, 526 Seiten, 53 Euro