Das außenpolitische Jahr 2023 wird, das steht bereits jetzt fest, zu einem Großteil in Asien spielen. Schätzungen der Vereinigten Nationen zufolge überholt im Jahresverlauf die Bevölkerungszahl Indiens die chinesische. Eine demographische Verschiebung, die für beide Länder einiges an Folgen bereithalten wird. Während sich die Volksrepublik China mit der Gefahr, schneller alt als reich zu werden, konfrontiert sieht, muß die Regierung in Neu-Delhi einen Weg finden, um die weiterhin rasch wachsende Zahl an Arbeitskräften in Lohn und Brot zu bringen. Immerhin müssen weder Xi Jinping noch Narendra Modi Präsidentschafts- oder Parlamentswahlen fürchten. Während in China generell von politischen Umwälzungen durch den allgemeinen Urnenentscheid abgesehen wird, kann Modi noch bis 2024 mit einer komfortablen Mehrheit im Parlament regieren.
Einer ganzen Reihe seiner Kollegen dürfte es anders ergehen, in Thailand stehen etwa Parlamentswahlen an. Doch in Zeiten einer zunehmenden Multipolarität des weltweiten Machtgefüges hat sich ironischerweise der außenpolitische Spielraum für kleinere Staaten deutlich verringert. Regionale Verschiebungen im Machtgefüge werden zunehmend von globalen Vorgängen bestimmt. Das gilt auch für Südamerika, wo sich der lokale Platzhirsch Brasilien künftig noch stärker von Washington emanzipieren dürfte. Bereits unter Jair Bolsonaro war die Bereitschaft gering, sich westlichen Sanktionen anzuschließen.
Stattdessen setzt Brasilia ökonomisch stark auf die Zusammenarbeit mit weiteren BRICS-Partnern und regional auf eine eigene Sicherheitsarchitektur in der Region und kann sich dabei auf eine freundliche Regierung in Argentinien und Kolumbien verlassen. Vor deutlichen Umwälzungen dürfte Peru stehen. Nach der von beiderseitigen Putschvorwürfen begleiteten Absetzung von Präsident Castillo durch das Parlament steht das Land vor einer Zerreißprobe. Die indigene Bevölkerung im Süden des Landes betont zunehmend die kulturelle und ökonomische Eigenständigkeit vom Rest des Landes. Beobachter schließen eine Eskalation bis hin zu einem Bürgerkrieg nicht mehr aus.
Hoffnung auf einen friedlichen Machtwechsel in Nigeria
Vor einer Zerreißprobe steht vor allem die Türkei. Präsident Recep Tayyip Erdoğan, seine Partei AKP und die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), die bis dato der AKP die Macht sicherte, bangen um ihre Wiederwahl am 18. Juni und ziehen alle Register, von der die Senkung der Sperrklausel von zehn auf sieben Ptozent noch die friedlichste ist.
Im Nahen Osten dürfte der Besuch des chinesischen Staatschefs im neuen Jahr erste Auswirkungen zeigen. Längst ist Peking einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Außenhandelspartner der Golfstaaten. Daß Mohammed bin Salman als Hüter der heiligen Stätten dem Vorsitzenden einer kommunistischen Partei einen Empfang mit allen militärischen Ehren bereitet, wundert niemanden mehr. Doch die Golfmonarchie geht noch weiter: gemeinsam mit dem Gast aus Fernost wolle man die Energiezusammenarbeit weiter ausbauen, die Seidenstraßeninitiative besser mit eigenen Vorhaben vernetzen, und selbst militärisch wird eine Zusammenarbeit nicht mehr ausgeschlossen, alles im Namen der Stabilität der Region. Ein klarer Fingerzeig an den bisherigen Protektor auf der anderen Seite des Atlantiks – die Auswahl an Partnern, so die unausgesprochene Ansicht der Golfstaaten, hat sich deutlich erweitert. Amerika ist nicht mehr alternativlos zwischen Golf und Rotem Meer.
Auch in einem weiteren Ölstaat stehen Veränderungen an, in Nigeria wird im Februar gewählt. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen sind die siebten seit dem Ende der Militärregierung im Jahr 1999 und mit über 84 Millionen Registrierten werden es die größten jemals in Afrika abgehaltenen Wahlen. Muhammadu Buhari kann nach zwei Amtszeiten nicht wiedergewählt werden, potentielle Nachfolger stehen in den Startlöchern, doch eine friedliche Machtübergabe kann im weiterhin stark von diversen Sezessionsbestrebungen betroffenen Land nicht garantiert werden. Ein Machtvakuum in Lagos würde aber nicht nur das Land, sondern vermutlich die ganze Region in Mitleidenschaft ziehen, denn Nigeria ist längst die größte Volkswirtschaft Afrikas. Zumindest in Ostafrika blicken viele Menschen mit mehr Zuversicht auf das neue Jahr. Nach dem Ende des Tigraykrieges hat sich die Lage in Äthiopien deutlich stabilisiert. Internationale Banken und Unternehmen kehren langsam in die Region zurück, die Regierung von Abiy Ahmed geht deutlich gestärkt in die Auseinandersetzung mit den vergleichsweise schwachen Unabhängigkeitsbewegungen in Oromo und weiteren Teilen des Vielvölkerstaates. Der Kollaps des größten Landes Ostafrikas scheint bis auf weiteres abgewendet, die Wirtschaft des Binnenstaates dürfte davon deutlich profitieren.
Migrationspolitisches Kräftemessen geht in die nächste Runde
Darüber freuen darf sich auch die EU, die befürchtete große Flüchtlingswelle aus Äthiopien bleibt somit aus. Dennoch bleibt für Brüssel der Blick auf die Außengrenzen eine Schicksalsfrage. Das gilt besonders für die italienische Regierung unter Ministerpräsidentin Giogia Meloni. Nachdem Rom außenpolitisch weiter auf die Westbindung setzt, bleibt als einziger kontroverser Punkt die Sicherung der Mittelmeergrenze auf der Agenda der Italienerin. Während ihre Wähler von Melonie eine kompromißlose Umsetzung einer strengen Migrationspolitik erwarten, dürfte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson auf eine etwas moderatere Lösung drängen. Das migrationspolitische Kräftemessen der beiden Frauen dürfte zu einem der spannendsten Duelle zählen, die 2023 bereithält, sofern Meloni den Showdown auch annimmt.
Foto: Der türkische Präsident Recep T. Erdoğan (r.) feiert am 29. Dezember 2022 den Geburtstag des MHP-Vorsitzenden Devlet Bahçeli: Helfen die Türken den beiden noch einmal zur Macht?