© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/23 / 06. Januar 2023

Grüße aus … Wien
Herumsitzen verboten!
Robert Willacker

Während am 11. November um 11.11 Uhr in zahlreichen deutschen Landen die Freunde von Fasching, Fastnacht und Karneval die Fünfte Jahreszeit einläuten, spielen sich zeitgleich auch in Wien nicht ganz alltägliche Szenen ab. Bunt gekleidete Narren und ihr Treiben sucht man hier zwar vergebens, trotzdem gerät so mancher Tourist beim Bummel durch die Innenstadt ins Staunen. Um ihn herum beginnen plötzlich Passanten, sich zu den ebenso unvermittelt ertönenden Klängen des Dreivierteltakts paarweise im Kreis zu drehen. Dem Eingeweihten ist klar: hierbei handelt es sich nicht etwa um den Beginn des Karnevals, sondern um den Start in die weltberühmte Wiener Ballsaison. 

Mehr als 450 Bälle zählt die österreichische Hauptstadt zwischen 11. November und Faschingsdienstag, wobei der weitaus überwiegende Teil erst jetzt, in den Monaten Januar (der Österreicher sagt „Jänner“) und Februar stattfindet. Viele Vereine, Stände, Zünfte, Schulen und Universitäten richten in dieser Zeit ihren eigenen Ball aus; manche im ganz kleinen Rahmen, andere im ganz großen. 

Es empfiehlt sich überdies, bereits vor dem Besuch des Balls ausgiebig zu Abend zu essen. 

So findet man im Ballkalender den Ball der Rauchfangkehrer, den Kaffeesiederball oder auch den Zuckerbäckerball. Den gesellschaftlichen Höhepunkt der Saison bildet am letzten Donnerstag vor dem Aschermittwoch traditionell der Opernball, der auf die Hofopern-Soirée vom 11. Dezember 1877 zurückgeht und jährlich mehr als 5.000 Gäste aus nah und fern anlockt. 

Wer sich das Ballgeschehen einmal aus nächster Nähe ansehen möchte, sollte sich vorher unbedingt mit ein paar kulturellen Eigenheiten vertraut machen. Wiener Bälle beginnen spät – die Eröffnungszeremonie findet häufig um 22.00 Uhr statt – und sie enden auch spät; häufig erklingt erst gegen 5.00 Uhr morgens der letzte Walzer. Es empfiehlt sich überdies, bereits vor Besuch des Balls ausgiebig zu Abend zu essen. Statt festlichem Dinner findet man auch auf den großen Gesellschaftsbällen traditionell „nur“ Sacherwürstel oder Gulaschsuppe vor. Und das hat einen Grund: auf Wiener Bällen wird getanzt! Walzer, Quadrille, Polka und zahlreiche andere Tänze wollen getanzt sein. Stundenlanges Herumsitzen und Dinieren ist in Wien ebenso fremd wie die Weigerung, als Ballbesucher überhaupt das Tanzbein zu schwingen. 

Wer dann nach einer durchtanzten Nacht auf dem Wiener Akademikerball in der Hofburg (24. Februar 2023) müde und glücklich den Heimweg antritt, macht vorher häufig noch einen Abstecher zum nächsten Würstelstand. Man kann als eingangs erwähnter Tourist sodann also Damen in Ballkleidern und Herren im Frack auch dabei bestaunen, wie sie um 6 Uhr morgens noch eine Käsekrainer mit Semmel und eine Dose Bier im Stehen genießen.