© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 02/23 / 06. Januar 2023

„Nur marginale Effekte“
NetzDG: Fünf Jahre ist eines der umstrittensten deutschen Gesetze nun in Kraft. Eine Studie des Medienrechtlers Marc Liesching hat dessen Wirkung untersucht. Das Fazit: Die Erfolge sind gering, der Schaden mutmaßlich beträchtlich
Moritz Schwarz

Herr Professor Liesching, fünf Jahre Netzwerkdurchsetzungsgesetz – wie lautet Ihre Bilanz?

Marc Liesching: Unserer Studie weist darauf hin, daß es im Grunde nicht funktioniert hat.

Inwiefern?

Liesching: In der praktischen Anwendung hat das NetzDG lediglich einen marginalen Effekt gezeigt. Es gab nur eine vergleichsweise geringe Zahl an Löschungen aufgrund des Gesetzes. 

Warum?

Liesching: Der Grund ist wohl, daß die Community-Standards der großen sozialen Medien ...

 ... also deren hauseigene Nutzungsbedingungen ...

Liesching: ...wesentlich weiter gefaßt sind, als die im Netzwerkdurchsetzungsgesetz genannten Straftatbestände und somit bereits zum Löschen von in Frage kommenden Inhalten geführt haben, bevor Internetnutzer diese aufgrund des NetzDG melden konnten. Dazu muß man wissen, daß die zig Millionen Inhalte, die auf Facebook, Youtube, Twitter und Co. gepostet werden, natürlich nicht einzeln von Mitarbeitern begutachtet, sondern zunehmend mit Hilfe Künstlicher Intelligenz proaktiv geprüft und gelöscht werden. Und im Vergleich zu der Zahl an Löschungen, die bei diesem automatisierten Verfahren erreicht wird, rangiert jene auf Grundlage von individuellen Anzeigen mit Bezug auf das NetzDG lediglich im Promillebereich. 

Also war die ganze Aufregung um das NetzDG – auch diese Zeitung hatte davor gewarnt – überzogen?

Liesching: Ich meine nein, denn obwohl das Gesetz keine direkte praktische Anwendung erfahren hat, gibt es dennoch Indizien dafür, daß es mittelbar zu Overblocking beigetragen haben könnte.

Ist das nicht ein Widerspruch? 

Liesching: Ja, so scheint es. Daß es aber wohl keiner ist, liegt daran, daß das NetzDG wahrscheinlich gefördert hat, daß die sozialen Netzwerke, um ihm auszuweichen, vorauseilend löschen. Was natürlich Overblocking zur Folge hat, also das Löschen von Inhalten, die nicht gegen gesetzliche Verbote verstoßen. 

Aber dann hat das NetzDG doch nicht „marginale“, sondern sogar enorme Wirkung entfaltet.

Liesching: Ja und nein. Es ist eher ein Kollateraleffekt, da der Gesetzgeber ja eher nicht beabsichtigt hat, daß die sozialen Netzwerke das NetzDG ins Leere laufen lassen, indem sie die eigene, proaktive Löschung gemäß ihrer Allgemeinen Geschäftsbedingungen bevorzugen.

Warum sollte er das nicht?

Liesching: Ich glaube, da trauen Sie dem Gesetzgeber zu viel antizipatorisches Vermögen zu. 

Wie auch immer, entscheidend ist doch die Wirkung.

Liesching: Erstens haben wir in unserer Studie das NetzDG zunächst einmal daran gemessen, was es erreichen sollte. Zweitens habe ich eben ausdrücklich formuliert, daß es „wahrscheinlich“ zu Overblocking geführt hat – man kann daran auch Zweifel haben. 

Nämlich? 

Liesching: Das Bundesjustizministerium hat ein sogenanntes Monitoring in Auftrag gegeben, also die Effizienz der Löschung gemeldeter, strafbarer Inhalte durch soziale Netzwerke vor und nach Inkrafttreten des NetzDG beobachten lassen. Laut diesen Monitoring-Berichten war die Löscheffizienz danach im Durchschnitt sogar geringer als zuvor. 

Aber das relativiert – Stichwort „wahrscheinlich“ – doch nicht nur Ihre Overblocking-Aussage, das widerlegt sie!

Liesching: Es spricht nicht gerade für sie, das stimmt. Allerdings ergeben sich bei den Monitorings auch Zweifel an der Methodik und Signifikanz der Ergebnisse. Andererseits läßt sich Overblocking schwer nachweisen.

Und wie kommen Sie dann zu Ihrer Annahme? 

Liesching: Es gibt mehrere Indizien, die für Overblocking infolge des NetzDG sprechen. Zum Beispiel der Umstand, daß es die sozialen Netzwerke dazu verpflichtet, offensichtlich strafbare Inhalte binnen 24 Stunden zu löschen. Das setzt die Netzwerke unter Zeitdruck, allgemein schneller zu prüfen und zu löschen. Oder zum Beispiel die Tatsache, daß das zuständige Bundesamt für Justiz in keinem einzigen Fall ein Bußgeld wegen Nicht-Löschens strafbarer Inhalte verhängt hat. Und das, obwohl der Gesetzgeber etwa 500 solcher Bußgeldfälle pro Jahr prognostiziert hatte. Diese Diskrepanz wäre damit zu erklären, daß die sozialen Netzwerke eben radikal löschen. 

Was aber nützen diese Indizien, wenn nun einmal keine vermehrte Löschtätigkeit stattgefunden hat, wie die Monitoring-Berichte belegen?

Liesching: Nochmal, es ist kaum möglich, das zu beweisen. Es ist forschungsmethodisch sehr schwierig, gesicherte Resultate zu komplexen Phänomenen zu bekommen. Ja, ich würde sogar sagen, wer in diesem Feld behauptet, er habe solche, macht sich verdächtig, unseriös zu sein. Wissenschaft betreiben heißt, unsicheres Gelände zu betreten. Demut und Understatement scheinen mir daher in der Wissenschaft ebenso angebracht wie in der Politik.

Neben den Monitoring-Berichten gibt es auch noch den Evaluierungsbericht der Bundesregierung zum NetzDG – der ebenfalls Ihrer Studie widerspricht. 

Liesching: Ja, dem aber wiederum auch die Monitoring-Berichte widersprechen, denn der Evaluierungsbericht kommt natürlich – wenig überraschend – zum Ergebnis, das NetzDG habe die mit ihm „verfolgten Ziele in erheblichem Umfang erreicht“.

Das heißt, es gibt Ihre Studie, die Monitoring-Berichte und die Evaluierung der Bundesregierung – und alle drei widersprechen sich gegenseitig. 

Liesching: In Teilen, ja.

Und wie erklären Sie sich das? 

Liesching: Zum Beispiel damit, daß die Monitoring-Berichte im Evaluierungsbericht der Bundesregierung gar nicht erwähnt werden, beziehungsweise nur mit zwei Sätzen, die aber so nebulös gehalten sind, daß der Widerspruch gar nicht zu erkennen ist. Das Bundesjustizministerium wollte die Monitoring-Berichte uns gegenüber auch zunächst gar nicht herausgeben. Erst unter Einsatz des Informationsfreiheitsgesetzes konnten wir dies erwirken. Und erst damit sind deren Inhalte öffentlich bekanntgeworden, da sie dann über netzpolitik.org publiziert worden sind.

Sie wollen sagen, beim Evaluierungsbericht der Bundesregierung handelt es sich um ein Gefälligkeitsgutachten? 

Liesching: Das würde ich nicht unterstellen. Die Erfahrung im allgemeinen zeigt jedoch, daß Erhebungen im Auftrag der Politik diese meist bestätigen – was aber auch nicht automatisch falsch sein muß. Doch eben deshalb wollten wir dem Regierungsbericht ja unsere unabhängige Studie gegenüberstellen. 

Hat denn – was Ihre Overblocking-These bestätigen könnte – das NetzDG dazu geführt, daß die sozialen Netzwerke ihre Nutzungsbedingungen entsprechend ausgeweitet haben?

Liesching: Das wäre eine Frage, die man auch einmal untersuchen müßte. 

Haben Sie das im Zuge Ihrer Studie denn nicht getan?

Liesching: Das ist nicht so einfach, wie Sie sich das offenbar vorstellen. Dann die Community-Regeln sind oft recht vage formuliert, so daß sich rein aus dem Wortlaut nicht konkret auf die tatsächliche Löschpraxis schließen läßt.  

Aber man kann doch untersuchen, ob und wie die sozialen Netzwerke ihre Regeln im zeitlichen Zusammenhang mit dem NetzDG verändert haben. 

Liesching: Ich sage ja, das müßte man auch einmal untersuchen. Das war jedoch nicht Teil unserer Evaluation. 

Warum nicht? 

Liesching: Weil wir in Ermangelung umfassender Kapazitäten keineswegs alle, sondern nur ausgewählte Aspekte im Zusammenhang mit dem NetzDG untersuchen konnten. Weshalb im Titel unserer Studie ja auch nur von einer „Teilevaluation“ die Rede ist. 

Wenn die sozialen Netzwerke ihre Nutzungsbedingungen wegen des NetzDG nicht verschärft haben sollten, wenn diese ergo schon vor dessen Inkrafttreten so scharf gewesen sein sollten, wie sie es heute sind – nämlich strenger als das, was das NetzDG verlangt: Wozu wurde das Gesetz dann überhaupt geschaffen?

Liesching: Gute Frage, die Sie aber der Politik stellen müßten, ich könnte da nur spekulieren. Ich kann jedenfalls nichts darüber sagen, inwieweit der Politik die konkrete Anwendung der Community-Standards der sozialen Netzwerke bekannt war. 

Bitte? Das muß doch der Fall sein, schließlich ist das NetzDG eine Reaktion auf eine Sachlage – ergo muß diese der Politik doch bekannt gewesen sein.

Liesching: Auch da überschätzen Sie möglicherweise unseren legislativen Prozeß. Die Gesetzes­qualität hängt eher von der Sachkompetenz der Referenten ab, die in den Ministerien die Entwürfe in der Regel ausarbeiten. Mir scheint jedenfalls die Sachverstandstiefe der Politik in Sachen NetzDG doch recht oberflächlich geblieben zu sein.

Sie wollen ernstlich sagen, die Politik schreibt ein Gesetz quasi blind, also ohne jede Ahnung von den tatsächlichen Verhältnissen, für die es gemacht wird?

Liesching: In der Politik der letzten Jahre, vor allem in der Medienpolitik, ist das leider gar nicht so selten. Man nennt das den „Sein-Sollen-Fehlschluß“, den der Philosoph David Hume formuliert hat, nach ihm auch als „Humes Gesetz“ bekannt. Danach wird häufig auf eine Phänomenologie mit einer Normsetzung reagiert, ohne daß es zwischen beiden eine nachweisliche Verbindung gibt. Konkret: Im Internet gibt es Haß und Hetze, also muß man etwas unternehmen – ohne aber eine sachkundige Abschätzung der Auswirkungen und Folgen der Maßnahmen vorzunehmen.    

Das ist doch absurd.

Liesching: Das mögen Sie so empfinden, es ist aber leider nicht fernliegend. Oft ist zu merken, daß es auch darum geht, irgend etwas zu unternehmen. Justizminister Heiko Maas sagte damals zum NetzDG im Bundestag: „Das Schlechteste, was wir tun können, ist nichts zu tun.“ Und hinterher steckt die Politik dann in der Konsistenz-Falle, auch sinnlose oder gar schädliche Gesetze als Erfolg darstellen zu müssen. 

Es geht also um reinen Aktionismus? 

Liesching: Gesetzgebung ist nun einmal das nahezu einzige Mittel, das den Parlamentariern zur Verfügung steht. Daran werden sie auch gemessen. Und das verleitet dazu, solche zu verabschieden. Gesetze sind die Raison d’être der Politik – in jeder Legislaturperiode aufs neue. Wobei ich betone, ich kann nicht beweisen, daß das im Falle des NetzDG so gelaufen ist. Ich sage nur, daß dies aufgrund unserer Studie mein Eindruck ist und es meinen persönlichen Erfahrungen im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses – etwa bei den Sachverständigenanhörungen – entspricht.

Aus Ihrer Sicht gibt es also keinen Nachweis für einen relevanten Nutzen des NetzDG, wohl aber – Stichwort Meinungsfreiheit – Indizien für dessen Schädlichkeit. Für wie schädlich halten Sie es?

Liesching: Erstens zur Klarstellung: Der Ansatz des Gesetzes – es gibt einen Mißstand und man will diesen regulieren – ist legitim. 

Das ist unbestritten.

Liesching: Zweitens, das Gesetz selbst stellt nicht den tiefen Einschnitt in die Meinungsfreiheit dar, den viele in ihm gesehen haben. Warum nicht? Maßgeblich auch, weil die Ankündigung des Gesetzes durch die Politik prätentiös war: Vollmundig hat sie Dinge versprochen, etwa es werde Haßrede im allgemeinen bekämpfen oder Fake News verhindern, die gar nicht möglich sind, da es ein Grundrecht auf Meinungsfreiheit gibt. Und weil ein erheblicher Teil dessen, was wir unter Haß, Hetze und Desinformation subsumieren – solange strafrechtlich nicht relevant – darunter fällt, ist all das zu äußern auch weiterhin möglich. Das NetzDG bezieht sich nur auf einige enge Straftatbestände, wie etwa Volksverhetzung oder Beleidigung, die aber auch vorher schon strafbar waren – übrigens auch für soziale Netzwerke ab Kenntnis nach Beschwerdeeingang.

Das heißt, wir Kritiker des NetzDG sind der Bundesregierung auf den Propaganda-Leim gegangen? 

Liesching: Mag sein, ich sage damit aber ja nicht, daß das NetzDG ungefährlich ist. Im ganzen muß sich die Politik fragen lassen, ob sie im Zusammenhang mit dem NetzDG unmögliche Dinge in Aussicht gestellt hat, die zudem nicht mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Warum sie das Gesetz so entworfen hat, daß es absehbar kaum nützliche Wirkung erzielen würde. Und ob sie damit nicht mittelbar bedenkliche Einschränkungen der Meinungsfreiheit herbeigeführt haben könnte. Worauf übrigens die Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags früh hingewiesen hatten.

Künftig soll das NetzDG von einem EU-Gesetz abgelöst werden, dem Digital Services Act, zu deutsch: Gesetz über digitale Dienste. Was ist von diesem zu erwarten?  

Liesching: Man muß auch das neue EU-Gesetz ab 2024 wieder evaluieren und wird es dann sehen. Einige Fehler des NetzDG scheinen regulatorisch auch dort angelegt zu sein. Nur mit einer Sache können wir dann abschließen: Mit dem Digital Services Act wird das NetzDG aufgehoben werden. 






Prof. Dr. Marc Liesching, ist Leiter der Studie „Das NetzDG in der praktischen Anwendung. Eine Teilevaluation des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes“. Der Jurist und Gutachter lehrt seit 2013 Medienrecht und Medientheorie an der staatlichen Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur in Leipzig, zuvor Medienrecht an der Universität Würzburg. Außerdem ist er Mitherausgeber der Schriftenreihe „Medienrecht & Medientheorie“, in der die NetzDG-Studie 2021 erschienen ist, und der Fachzeitschrift Multimedia und Recht sowie Autor mehrerer Gesetzeskommentare zum Medienrecht. Geboren wurde der ehemalige Medien-Rechtsanwalt 1972 in Stuttgart. 

Foto: Gefahr für die Meinungsfreiheit: „Es gibt keine Beweise, aber Indizien dafür, daß das Gesetz wahrscheinlich Overblocking gefördert hat, indem die sozialen Netzwerke vorauseilend gelöscht haben“