© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 52/22 - 01/23 / 23. Dezember 2022

Ohne Kontrolle in Erichs Kolonne
„Stern“-Ente über ein Attentat auf Honecker an Silvester 1982
Thomas Schäfer

Am 13. Januar 1983 erschien in der bundesdeutschen Illustrierten Stern ein Artikel mit der Überschrift „Das Attentat. Ofensetzer Paul Eßling, der Mann, der Honecker erschießen wollte“. Daraufhin wurde der Verfasser, der Stern-Korrespondent Dieter Bub, wegen „verleumderischer Berichterstattung“ aus der DDR ausgewiesen. Dennoch berichteten alle großen Medien im Westen über den vermeintlichen Mordanschlag auf den Ostberliner Staats- und Parteichef. Dieser war allerdings tatsächlich keiner, wie 1995 dann auch die Staatsanwaltschaft Neuruppin nach intensiven eigenen Recherchen bekanntgab. Vielmehr lag eine Verkettung unglücklicher Umstände vor.

Der für DDR-Verhältnisse recht gut situierte Handwerksmeister Paul Eßling aus Klosterfelde hatte ein Faible für illegale Schußwaffen und besaß insgesamt zehn davon, darunter auch eine antiquierte Wal-ther-Pistole vom Kaliber 7,65 Millimeter. Die führte der geschiedene und psychisch instabile 41jährige mit sich, als er am Mittag des 31. Dezember 1982 mit seinem grünen Lada 1300 in offensichtlich schon reichlich alkoholisiertem Zustand nach Wandlitz nördlich von Berlin fuhr. Dort arbeitete ­Eßlings ehemalige Freundin ­Sieglinde ­Strietzel, welche ihm kurz zuvor den Laufpaß gegeben hatte und auch keinerlei Bereitschaft zum Einlenken zeigte, als der Ofensetzer bei ihr aufkreuzte, um sie zurückzugewinnen.

Daraufhin trat Eßling frustriert den Heimweg an, wobei er mit halsbrecherischem Tempo die Fernverkehrsstraße 109 entlangraste und schließlich der Fahrzeugkolonne mit Honeckers schwarzem gepanzerten Citroen, die den DDR-Politiker zu dessen Jagdhütte „Wildfang“ am Pinnow-See in der Schorfheide bringen sollte, die Vorfahrt nahm. In Reaktion hierauf stoppten zwei Personenschützer Eßlings Lada vor dem Haus Nummer fünf in der Straße der Roten Armee in Klosterfelde, wonach der Handwerker, bei dem die Gerichtsmediziner später einen Blutalkoholwert von 2,5 Promille feststellten, einem der beiden Männer in die Brust schoß. Daraufhin feuerte der andere Leibwächter zurück, traf aber bloß die Wagentür. In diesem Moment richtete Eßling seine Waffe gegen sich selbst.

Wie die Staatssicherheit später im Zuge ihrer Ermittlungen feststellte, war der Betrunkene nur zufällig in die Nähe von Honeckers Wagenkolonne geraten und beim Anblick der Sicherheitskräfte in plötzliche Panik verfallen. Obwohl die Untersuchung also eindeutig erbrachte, daß der Vorfall aus einer Kurzschlußhandlung ohne politischen Hintergrund resultierte, ließ der MfS-Chef Erich Mielke die Überwachung der Bevölkerung weiter verschärfen, um selbst dem allerkleinsten Hinweis auf möglicherweise bevorstehende „Terror- und andere operativ bedeutsame Gewaltakte“ nachzugehen. 

Titel des „Stern“ vom Januar 1983: Verkettung unglücklicher Umstände