© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 50/22 / 09. Dezember 2022

Chancenkarte für mehr Billigkräfte
Arbeitsmarkt: Fachkräfteeinwanderungsgesetz der Ampel / Neuer Turbo für den Zustrom ins deutsche Sozialsystem?
Christian Schreiber

Vor 30 Jahren stieg die Zahl der Zuwanderer ins wiedervereinigte Deutschland von 1,2 auf 1,5 Millionen. Die Gründe für den Bevölkerungszuwachs auf 81 Millionen waren vielfältig: Familiennachzug, Heirat, Arbeitsmigration, die Öffnung des „Eisernen Vorhangs“, die Nachwirkungen des Ersten Irakkriegs 1990/91 und der Bürgerkrieg in Ex-Jugoslawien. 438.191 der Neuankömmlinge stellten einen Asylantrag nach Artikel 16 des Grundgesetzes – etwa doppelt so viele wie 1991. Am 6. Dezember 1992 einigten sich dann – trotz linksliberaler Kritik –Union, SPD und FDP auf den „Asylkompromiß“, der dann 1993 als Artikel 16a ins Grundgesetz kam.

In den folgenden Jahren ging der Zustrom nach Deutschland kontinuierlich zurück, bis 2006 mit 661.855 ein kurzzeitiger Tiefststand beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) registriert wurde. Seither geht es – flankiert von diversen Gesetzesänderungen – wieder stetig aufwärts: 2015 zählte das Bamf 2,14 Millionen Zuwanderer, so viele wie nie zuvor. Seither liegt die Zuwanderungszahl beständig bei weit über einer Million. 2021 waren es trotz der globalen Corona-Einschränkungen schon wieder 1,32 Millionen.

Angesichts des Ukraine-Kriegs (mit bislang über einer Million Flüchtlinge) wird die 2015er Rekordzuwanderungszahl in diesem Jahr wohl überschritten – doch die deutsche Politik reagiert ganz anders als vor drei Jahrzehnten, obwohl die damit einhergehenden Probleme, etwa auf dem Wohnungsmarkt, mit damals vergleichbar sind: die Einwanderungshürden werden entsprechend dem Ampel-Koalitionsvertrag massiv gesenkt. Denn gleichzeitig verlassen jedes Jahr Hunderttausende In- und Ausländer Deutschland. Insgesamt ist aber die Einwohnerzahl trotz anhaltend geringer Geburtenraten angestiegen: von 79,8 Millionen (1990) auf 83,2 Millionen (2021).

Gleichzeitig stieg die Zahl der Rentner: 1992 waren es 19,3 Millionen, 2006 24,6 Millionen, und 2021 waren es 25,7 Millionen. Allerdings ist auch die Zahl der Erwerbstätigen stark angestiegen: von 38,4 Millionen (1992) auf 44,9 Millionen (2021). Dennoch klagt die Wirtschaft seit Jahren über eine Arbeitskräftemangel in fast allen Bereichen. Laut dem „MINT-Herbstreport 2022“ fehlten den Firmen demnach im Oktober 326.100 technische Fachkräfte (JF 49/22). „Berufliche Engpässe werden sich aufgrund des ‘3-D’-Strukturwandels (Demographie, Digitalisierung, Dekarbonisierung) sowie der Nachholeffekte der Covid-19-Pandemie bereits in den kommenden fünf Jahren verstärken“, heißt es passend dazu im Fachkräftemonitoring für das Arbeitsministerium. Mit dem neuen Fachkräfteeinwanderungsgesetz sollen nun daher mehr Fachkräfte aus dem Nicht-EU-Ausland nach Deutschland gelockt werden. Vorgesehen ist unter anderem, daß Menschen künftig über ein Punktesystem nach Deutschland einwandern können, auch wenn sie noch keinen Arbeitsplatz vorweisen können.

Die Mindestgehaltsgrenze von 3.700 Brutto soll fallen

Daß es EU-weit 12,96 Millionen registrierte Arbeitslose gibt, die sofort ohne Probleme nach Deutschland kommen könnten, wird dabei offensichtlich ignoriert. Im Ampel-Gesetzentwurf heißt es, daß Drittstaatsangehörigen „mit gutem Potential“ der Aufenthalt zur Suche eines Arbeitsplatzes ermöglicht werden soll. „Wir werden auf Grundlage eines transparenten, unbürokratischen Punktesystems eine Chancenkarte zur Arbeitsplatzsuche einführen“, erklärt die Regierung.

Dabei gibt es schon seit 2012 die „Blue Card“ der EU, mit der Drittstaatler aus aller Welt auch ohne jegliche Kenntnisse der deutschen Sprache in Deutschland arbeiten und für sich und die Familie ein Aufenthaltsrecht erwerben können. Diese Sache hat aber einen Haken: Die Mindestgehaltsgrenze liegt bei 56.400 Euro Brutto. Bei echten Mangelberufen (Ingenieure, Ärzte, Informatiker) sind es allerdings nur 43.992 Euro jährlich. Doch welcher hochqualifizierte „Computer-Inder“ will schon angesichts der deutschen Steuer- und Abgabenlast für weniger als 3.700 Euro Brutto arbeiten?

Und im Arbeitsbereich ohne Studium sei das aufwendige Anerkennungsverfahren für den Berufsabschluß tatsächlich „eine zentrale Hürde“ für nicht akademisch gebildete Einwanderer, klagt der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR). Daher versprechen die Ampelkoalitionäre nun auch Abhilfe. Kernpunkt ist das neue „Chancen-Aufenthaltsrecht“, das Migranten erwerben können, die zum Stichtag 31. Oktober 2022 schon mindestens fünf Jahre als „Geduldete“ in Deutschland leben. Das sind eigentlich ausreisepflichtige Ausländer, zum Beispiel nicht anerkannte Asylbewerber, deren Abschiebung aus den verschiedensten Gründen nicht gelang. Etwa, weil sie ihren Paß weggeworfen haben, die Sicherheitslage in ihrer Heimat eine Rückkehr angeblich nicht erlaubt oder die betreffende Person erkrankt ist. Laut Bundesregierung lebten Ende 2021 etwa 242.000 „Geduldete“ in Deutschland, davon knapp 137.000 seit mehr als fünf Jahren.

Doch hilft das wirklich bei der Fachkräfteanwerbung? Im November lag die Arbeitslosenquote in Deutschland bei 5,3 Prozent, bei Personen mit Migrationshintergrund waren es hingegen über zwölf Prozent. Und laut Bundesagentur für Arbeit hatten beispielsweise syrische Zuwanderer im Februar 2022 eine Beschäftigungsquote von nur 37 Prozent. Menschen aus anderen Asylherkunftsländern sind im Schnitt nur zu 40 beschäftigt – bei den EU-Bürgern sind es 61 Prozent.

2019 kamen via „Blue Card“ etwa 39.000 Menschen aus Drittstaaten zum Arbeiten nach Deutschland, gerade einmal 0,1 Prozent der Gesamtzahl an inländischen Arbeitskräften. 2020 waren es coronabedingt nur noch gut 29.000. Nun soll daher die Gehaltsgrenze für Arbeitskräfte aus dem Nicht-EU-Ausland durch neue Gesetze radikal gesenkt werden. Und es soll auch möglich sein, die Qualifizierungsanerkennung erst in Deutschland einzuleiten und nebenbei schon zu arbeiten, wenn Arbeitgeber eine „Anerkennungspartnerschaft“ übernehmen. Und was passiert, wenn der Arbeitsmigrant mit der hiesigen Arbeitskultur nicht dauerhaft zurande kommt? In den Niedriglohn-Bereichen herrscht oft viel Streß und ein sehr rauher Ton. Das neu eingeführte Bürgergeld könnte dann für eine bestimmte Klientel anziehender sein als gedacht.

 www.fachkraefteeinwanderungsgesetz.de

Foto: Junger Migrant bei der Lokführerausbildung zwischen Rastatt und Karlsruhe: Die Beschäftigungsquote von syrischen Asylanten liegt derzeit bei nur 37 Prozent