© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 48/22 / 25. November 2022

Verhandlungen ausgeschlossen
Ukraine-Krieg: Nato geht nach Raketeneinschlag in Polen von ukrainischem Blindgänger aus
Felix Hagen

Das von russischen Kräften besetzte Kernkraftwerk Saporischschja in der Ukraine  ist am vergangenen Wochenende erneut unter Beschuß geraten. Experten der IAEA berichteten von Einschlägen auf dem Gelände der größten Anlage ihrer Art in Europa. Die Sicherheit des Atomkraftwerks sei jedoch nicht gefährdet, wie die Behörde mitteilte. Sowohl Rußland als auch die Ukraine beschuldigten sich gegenseitig, für den Beschuß verantwortlich zu sein. In einer Videobotschaft an die parlamentarische Versammlung der Nato in Madrid rief der ukrainische Staatschef Wolodymyr Selenskyj die Allianz dazu auf, das Kernkraftwerk zu schützen, dies sei „im Interesse aller Nationen“.

In einer weiteren Videobotschaft würdigte Selenskyj den Widerstandswillen der Ukrainer, diese hätten für ihre „Freiheit mit Blut“ bezahlt und würden dies auch weiterhin tun. Dabei dauern die Kämpfe im Osten des Landes mit unveränderter Härte an. Besonders das Gebiet um Donezk sei schwer umkämpft, dort seien allein am Sonntag „400 Granaten“ abgefeuert worden. Die russische Seite konzentriert sich nach Angaben britischer Sicherheitsdienste nach ihrem Rückzug über den Fluß Dnjepr in der Südukraine nun auf die Verteidigung der Stadt Swatowe im Osten. Dort seien die russischen Truppen nun am verletzlichsten.

Sowohl die Verteidigungs- als auch die Offensivfähigkeit der russischen Truppen werde „weiterhin durch einen ernsthaften Mangel an Munition und qualifiziertem Personal“ behindert. Auch die Nutzung iranischer Drohnen geht Beobachtern zufolge zurück. Worauf diese Verringerung  zurückzuführen ist, sei aber unklar. Auch auf eine baldige Waffenruhe weise nichts hin. 

Zuletzt hatte es in einigen europäischen Medien sowie im Internet Berichte über einen möglichen Waffenstillstand im Winter gegeben. Das Verteidigungsministerium in Kiew erteilte diesen Spekulationen nun eine Absage. Sein Land lehne weiterhin Verhandlungen ab, so der ukrainische Präsidentenberater Mykhailo Podoljak. Diese kämen einer Kapitulation gleich, Rußland sei hingegen am „verlieren“. Nach Angaben von US-Medien hatten in den vergangenen Tagen hochrangige US-Vertreter die Ukrainer dazu gedrängt, Verhandlungen mit der russischen Seite in Betracht zu ziehen.

Ebenfalls zurückgewiesen wurden Berichte über ein Kriegsverbrechen an russischen Soldaten. Auf einem im Internet zirkulierenden Video scheint eine bereits entwaffnete Gruppe in russischer Uniform von ukrainischen Kämpfern erschossen zu werden. Die russische Seite hatte nach Bekanntwerden des Films eine unabhängige Untersuchung gefordert. Die Aufnahmen zeigten die „vorsätzliche und methodische Ermordung“ von mehr als zehn russischen Soldaten, erklärte das Ministerium am Freitag.

Mittlerweile kündigte Moskau an, man werde „selber“ nach den Verantwortlichen für das Massaker suchen. Auch die Vereinten Nationen erklärten, man habe „Kenntnis der Videos“ und „untersuche sie“. Die Uno-Mission zur Überwachung der Menschenrechte in der Ukraine hatte vor kurzem mitgeteilt, ihr lägen glaubwürdige Berichte über Folter und Mißhandlungen von Kriegsgefangenen auf beiden Seiten vor. Die ukrainische Seite sprach im Zusammenhang mit dem Video von „Selbstverteidigung.“

Polen will seine Luftabwehr an der Grenze zur Ukraine stärken

Die deutsche Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) kündigte derweil an, dem Nato Partner Polen weitere Unterstützung zur Abwehr von Flugobjekten zur Verfügung zu stellen. Nachdem am Dienstag der vergangenen Woche eine Rakete auf polnischem Territorium eingeschlagen und zwei Todesopfer gefordert hatte, beabsichtigt das Militärbündnis, sich nun besser auf derartige Ereignisse vorzubereiten. Der polnische Verteidigungsminister Mariusz Blaszczak hatte zuvor verlautbart, zusätzliche Patriot-Batterien zur Abwehr von Raketen und Flugzeugen im Osten seines Landes aufstellen zu wollen.

Nachdem ursprünglich die Russische Föderation für den Vorfall verantwortlich gemacht wurde, gehen westliche Politiker nun von einer ukrainischen Luftabwehrrakete aus, die versehentlich auf polnischem Gebiet niedergegangen sei, als diese versuchte  einen russichen Flugkörper abzufangen. Selenskyj hält bisher an seiner Darstellung fest, die Rakete sei von russischer Seite aus gezündet worden. Trotz der Differenzen will das westliche Bündnis an der Unterstützung für die Ukraine festhalten. 

Der britische Premierminister Rishi Sunak traf am Samstag für einen Kurzbesuch bei seinem ukrainischen Amtskollegen in Kiew ein. Seit den ersten Tagen des Krieges sei das Vereinigte Königreich „einer der engsten Verbündeten der Ukraine“, daran halte man auch weiterhin fest. 

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hat derweil vor nachlassendem Engagement für die Ukraine gewarnt. Er wisse, daß „vor dem Hintergrund steigender Lebenshaltungskosten“ in den Mitgliedstaaten die Unterstützung für die Ukraine schwieriger werde. Diese sei aber im Interesse aller, andernfalls „drohe eine steigende Unsicherheit in der Welt“. Das Nato-Mitglied Norwegen stellt der Ukraine umgerechnet knapp 191 Millionen Euro zum Ankauf von Gas für den kommenden Winter zur Verfügung. Damit soll der Kollaps der ukrainischen Energieversorgung im Winter abgewendet werden.

Die deutsche Wirtschaft steht im Oktober allgemein gut da, hat aber teilweise deutlich unter dem Ukrainekrieg gelitten. Während die globalen Exporte gemessen am Vorjahresmonat um zehn Prozent zulegten, brachen die Ausfuhren nach Rußland um gut 59 Prozent auf eine Milliarde Euro ein, wie Wirtschaftsvertreter bekanntgaben. Nach Ansicht des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft würden die westlichen Sanktionen gegen Rußland aber vor allem der Regierung in Moskau schaden. Ein Rückgang von vier Prozent in diesem Jahr klinge nach „nicht viel“, so der Geschäftsführer des Ausschusses, Michael Harms, aber auch im nächsten Jahr werde es einen Abschwung der russischen Wirtschaft geben. Das Land sei „deutlich getroffen“, vor allem durch die Technologieabhängigkeit.

Foto: Der ukrainische Präsident Selenskyj und der britische Premierminister Sunak: Das Vereinigte Königreich ist einer der beiden Hauptlieferanten für Waffen nach Kiew