© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/22 / 28. Oktober 2022

Der Erdgaspreis bestimmt über die Zukunft der deutschen Wirtschaft
Aktien im Krieg unter Druck
Thomas Kirchner

Ein Fünftel hat der Dax in diesem Jahr schon verloren und Deutschland steht die Rezession noch bevor. Oder wird es sogar eine Depression wie zwischen den beiden Weltkriegen? Wie schlimm es kommt, hängt vom Erdgas ab. Als wäre sie Gosplan, das gescheiterte sowjetische Komitee für die Wirtschaftsplanung, ist die Ampel-Regierung nur auf die Gasmenge fixiert und ignoriert dabei den Preis. Doch der bestimmt, ob die deutsche Wirtschaft wettbewerbsfähig bleibt. Die Aktien, die im Falle einer andauernden Energiekrise pleite gehen würden, sind schon schwach, bieten aber gleichzeitig das größte Potential, sollte es zu einer überraschenden Friedenslösung kommen.

Es gibt keine richtigen und falschen Anlagen, nur solche, die zur Risikotoleranz jedes Anlegers passen. BASF ist das beste Beispiel – das Werk in Ludwigshafen beliefert die ganze Welt. Bleibt Gas hierzulande unerschwinglich, könnte der Chemiekonzern mit einem radikalen Schrumpfkurs und Ausbau ausländischer Standorte überleben. Schwierig wird es etwa für den Handel, denn die Realeinkommen sollen um fünf Prozent schrumpfen. Am anderen Ende des Spektrums sind jene Konzerne, die zwar in Deutschland beheimatet sind, jedoch weltweit produzieren und verkaufen – und die Mehrzahl der 40 Dax-Konzerne fällt in diese Kategorie.

Doch Anleger müssen nun nicht nur die Absatzmärkte beachten, sondern auch die Produktionsstandorte. Wer nur in Deutschland produziert und weltweit verkauft, hat schlechte Karten. Der starke Dollar würde normalerweise die Exportbranche boomen lassen. Doch der Währungsverfall kann die exorbitanten Energiekosten nicht ausgleichen – es ist aus mit der Wettbewerbsfähigkeit. Die Kunden im Ausland werden sich neue Lieferanten suchen. Sind die Kunden einmal weg, sind sie dauerhaft verloren. Es bleiben der Politik nur noch wenige Wochen, dies abzuwenden. VW produzierte und verkaufte 2021 weniger als 20 Prozent seiner Fahrzeuge in Westeuropa, aber das coronagebeutelte China-Geschäft lastet auf der Aktie. Bei BMW könnte sich Technologieoffenheit statt Festlegung auf Elektroantriebe als strategischer Vorteil erweisen. Daimler Truck und Mercedes-Benz hingegen haben eine stärkere Orientierung auf Europa. Zulieferer wie Schäffler oder SG Carbon haben einen höheren Deutschland-Anteil als die Fahrzeughersteller selbst.

Krisengewinner zu finden ist nicht einfach. Die Kasseler K+S, einer der wenigen deutschen Rohstoffkonzerne, erzielt nur 21 Prozent seines Umsatzes in Deutschland und profitiert von gestiegenen Düngerpreisen. Das Nordamerikageschäft spielt eine steigende Rolle. Dementsprechend notiert die Aktie in etwa auf dem Vor-Covid-Niveau. Das Dax-Mitglied Linde ist seit der Fusion mit dem US-Konzern Praxair in einer ähnlichen Lage: Das Deutschlandgeschäft ist so gering, daß es nicht mehr separat in der Bilanz ausgewiesen wird. Nur vier Prozent hat die Aktie seit Jahresanfang eingebüßt. Genauso sieht es bei Bayer aus. Die Monsanto-Übernahme war bisher katastrophal, ist jetzt aber der einzige Lichtblick. Europa ist weniger als ein Drittel des Geschäfts, Deutschland nur ein Bruchteil davon. Die Aktie ist seit Jahresanfang im Plus, auch wenn sie seit der Spitze im April 20 Prozent eingebüßt hat.

Jetzt, nach acht Monaten Ukraine-Krieg, komplett aus deutschen Aktien auszusteigen ist  zu spät. Aber man sollte trotzdem sein Depot nach Depressionsrisiken durchforsten oder potentielle Friedenschancen hinzufügen.