© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 44/22 / 28. Oktober 2022

Ein Kompromiß herbeigekanzelt
Machtwörtchen: Öffentlichkeitswirksam bringt Olaf Scholz seine Richtlinienkompetenz ins Spiel / Streit ist nur aufgeschoben
Jörg Kürschner

Es hat lange, wohl zu lange gedauert, bis sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) an seinen Schreibtisch setzte, um die Minister Robert Habeck (Grüne), Christian Lindner (FDP) und Steffi Lemke (Grüne) förmlich anzuweisen, den Weiterbetrieb der drei Kernkraftwerke Isar 2, Neckarwestheim 2 sowie Emsland bis Mitte April nächsten Jahres zu ermöglichen. Ursprünglich sollten die drei Meiler zum Jahresende abgeschaltet werden. Dabei berief sich der Regierungschef ausdrücklich auf die ihm kraft Grundgesetzes zustehende Richtlinienkompetenz, die in der Geschäftsordnung der Bundesregierung präzisiert wird. Darin heißt es: „Der Bundeskanzler bestimmt die Richtlinien der inneren und äußeren Politik. Diese sind für die Bundesminister verbindlich und von ihnen in ihrem Geschäftsbereich selbständig und unter eigener Verantwortung zu verwirklichen. In Zweifelsfällen ist die Entscheidung des Bundeskanzlers einzuholen. Der Bundeskanzler hat das Recht und die Pflicht, auf die Durchführung der Richtlinien zu achten“.

Damit hatte der SPD-Politiker mittels seiner Sonderstellung im Kabinett einen wochenlangen Streit zwischen Grünen und FDP, personifiziert durch Vizekanzler Habeck und Finanzminister Lindner, mit einem Machtwort beendet. Die FDP verbuchte des Kanzlers Entscheidung als Sieg, unterschlug dabei allerdings, daß sie für eine Laufzeitverlängerung bis 2024 plädiert hatte. Immerhin sieht Scholz’ Kompromiß den Weiterbetrieb des Kraftwerks Emsland vor, was die Grünen noch tags zuvor auf ihrem Bundesparteitag vehement abgelehnt hatten. Doch die Partei- und Fraktionsführungen signalisierten rasch, daß sie sich des Kanzlers Diktum beugen würden. 

Naheliegend, konnte doch Habeck gegenüber seiner Partei auf die Richtlinienkompetenz des Kanzlers verweisen, der er unterliege. „Scholz ist voll ins Risiko gegangen“. Weder Habeck noch Lindner pochten auf ihre Ressortverantwortlichkeit, die in einem gewissen Spannungsverhältnis zum Weisungsrecht des Kanzlers steht. Denn auch das Ressortprinzip ist im Grundgesetz verankert. Es bedeutet, daß die Minister ihren Geschäftsbereich selbständig und eigenverantwortlich leiten, der Bundeskanzler darf deshalb nicht ohne weiteres in die Befugnisse der Minister „hineinregieren“. 

Es wurde spekuliert, der Kanzler habe sein Vorgehen mit den Ministern abgesprochen. Dafür spricht, daß Scholz’ Brandbrief mehrere Vermittlungsgespräche vorausgegangen waren. Jedenfalls konnte der oft als zögerlich wahrgenommene Regierungschef Tatkraft demonstrieren. „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt sie“. Die Richtlinienkompetenz dürfte in der Ampel ein Ausnahmefall bleiben, illustriert sie doch offenen Streit in der Koalition.

Denn es gab auch Ausreißer, die Unmut und Skepsis erkennen ließen. Ex-Umweltminister Jürgen Trittin, ein altlinker Atom-Gegner, befand, der Kanzler-Brief sei vom „Grundgesetz nicht gedeckt“. FDP-Quertreiber Wolfgang Kubicki störte einmal mehr die Beschwichtigungsversuche des Koalitionspartners. „Wenn sich herausstellen sollte, daß wir die Kernkraftwerke weiterhin brauchen, dann wird der 15. April 2023 nicht das Enddatum der Kernkraft in Deutschland sein.“ 

Die Aufregung legte sich bald, denn des Kanzlers Richtlinienkompetenz bindet seine Minister, nicht aber die Abgeordneten. Sie sind keine passiven Beobachter, denn sie müssen im Bundestag der Änderung des Atomgesetzes zustimmen, die im November auf der Tagesordnung steht. Die Koalitionsspitzen brauchen Ruhe in der aufgeheizten Atmosphäre, denn die Mehrheit muß stehen.

Die Richtlinienkompetenz ist rechtlich unbestritten, politisch jedoch abhängig von der Statur des Kanzlers und dem Zustand der Koalitionsparteien. Das Wort von der „Kanzlerdemokratie“ paßte auf den CDU-Kanzler Konrad Adenauer (1949–1963), auf seine Nachfolger Ludwig Erhard (1963–1966) und Kurt Georg Kiesinger (1966–1969) schon nicht mehr. 

Erhard wirkte schwach wegen des fehlenden Rückhalts in der CDU, Kiesinger mußte sich in der ersten Großen Koalition die Zuschreibung „Wandelnder Vermittlungsausschuß“ gefallen lassen. SPD-Nachfolger Willy Brandt (1969–1974), eher ein Visionär mit hohem internationalem Ansehen, wirkte im Regierungsalltag oft entrückt, ließ seinen umtriebigen Amtschef Horst Ehmke gewähren. Aus anderem Holz geschnitzt war Scholz’ Vorbild Helmut Schmidt (1974–1982), von autoritärem Auftreten und Tatkraft vermittelnd. Trotzdem hat er sich mit Stolz nie auf seine Richtlinienkompetenz berufen. 

„Wer das macht, weiß,  daß die Koalition zu Ende ist“

Ebensowenig wie Nachfolger Helmut Kohl (1982–1998), der Unstimmigkeiten mit CSU und FDP intern regelte, oft telefonisch, ihnen – taktisch motiviert – inhaltliche Spielräume ließ. Und Gerhard Schröder, der „Basta-Kanzler“ (1998–2005) bedeutete den Grünen öffentlich seine Machtposition. „Das, was ich gesagt habe, gilt“. Angela Merkel (2005–2021) verlegte sich aufs Moderieren, wohl auch weil ihr Vizekanzler Franz Müntefering (SPD) die Richtlinienkompetenz wegen des geringen Stimmenabstands zwischen Union und SPD 2005 öffentlich in Frage stellte. „Die Anwendung der Richtlinie, die ist nicht lebenswirklich. Wer das macht in einer Koalition, der weiß, daß die Koalition zu Ende ist“. 

Elf Jahre später, Müntefering war nicht mehr im Amt, hielt sich Merkel nicht daran. Im Sommer 2018 drohte sie ihrem ewigen Gegenspieler, Innenminister Horst Seehofer (CSU), öffentlich mit ihrer Richtlinienkompetenz, weil der bestimmte Flüchtlinge an der deutschen Grenze zurückweisen wollte. Der Streit hätte seinerzeit fast zum Zerbrechen der Fraktionsgemeinschaft von CDU und CSU geführt. 

Und jetzt Scholz. Ein Kanzler unter Erfolgsdruck. Ein Scheinriese, ein Macher? „Wer bei mir Führung bestellt, bekommt Führung“, hatte er im Wahlkampf vollmundig versprochen. Der langjährige Politik-Profi und Jurist wird wissen, daß die Karte Richtlinienkompetenz bei häufigem Gebrauch zum schlechten Blatt wird. 

„Die Richtlinien der Politik bestimme ich. Und auch, was Richtlinien der Politik sind, bestimme ich“, stellte einst Kanzler Adenauer fest. Aber das ist lange her. 1956 blies er seinem späteren Nachfolger Erhard den Marsch. Es ging um die Rentenreform. „Mit besten Grüßen. Ihr ergebener Adenauer“, unterzeichnete er den mit Drohungen versehenen Brief.