© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 43/22 / 21. Oktober 2022

Westlicher Zorn auf den Iran
Ukraine-Krieg: Nachdem die iranische Regierung zuletzt Waffenlieferungen an Rußland dementierte, bestätigten iranische Diplomaten die Lieferungen nun
Jörg Sobolewski

Der Krieg in der Ukraine ist nach Angaben vieler Beobachter in eine neue Phase eingetreten. Obwohl den Streitkräften des Landes im Osten, etwa in der Region Cherson, weiterhin Gebietsgewinne gelingen, leidet besonders die Infrastruktur im Rest der Ukraine unter russischen Luftangriffen, die in den letzten Tagen an Intensität deutlich zugenommen haben. 

Eine der erfolgreichsten Waffen im russischen Arsenal sind dabei kleine Drohnen, die im Schwarm eingesetzt werden und teilweise in der Herstellung nur wenige tausend Euro kosten. Vor allem die iranische Shahed-136-Drohne erweist sich für Moskau als besonders schlagkräftig. Der ukrainischen Luftabwehr gelingt es regelmäßig nicht, den im Schwarm eingesetzten Flugkörper abzufangen.

EU-Kommission will Teheran „klare Antworten“ geben

Die Drohne kann aus standardisierten Containern gestartet werden, verfügt über eine Reichweite zwischen 1.800 und 2.500 Kilometern und ist mit 3,5 Metern Länge und 2,5 Metern Breite für viele Radareinrichtungen unsichtbar. Die geringe Vorwarnzeit, die der Luftverteidigung durch die Größe der Drohne bleibt, genügt oft nicht, um einen einzelnen Angriff abzuwehren, geschweige denn einen Schwarm von Angreifern. Durch die vergleichsweise geringe Geschwindigkeit der propellergetriebenen Shahed 136, die russische Truppen unter dem Namen „Geran-2“ einsetzen, bleiben Abfangversuche durch herkömmliche Jagdflugzeuge oder Flugabwehrraketen häufig erfolglos. 

Wo sie doch gelingen, stellt der Abschuß für die beteiligten Kräfte mitunter ein hohes Risiko dar, etwa in der Westukraine, wo nach einem erfolgten Abschuß der Drohne eine ukrainische Mig in das Trümmerfeld der eigenen Rakete flog und abstürzte. Hinzu kommt der geringe Preis. Eine Shahed 136 kostet in der Herstellung weniger als 20.000 Euro, eine US-amerikanische schultergestützte Stinger zur Flugabwehr hingegen deutlich über 30.000 Euro. Nachdem zu Beginn die iranischen Flugkörper vor allem gegen gepanzerte Fahrzeuge und Artillerie zum Einsatz kamen, beschießt Rußland mittlerweile im ganzen Land Teile der zivilen Infrastruktur. 

Die Angriffe zeigten schnell Wirkung. Innerhalb einer Woche seien etwa ein Drittel der ukrainischen Kraftwerke außer Betrieb gesetzt worden, meldete die französische Agentur AFP. Auch deshalb richtet sich der Zorn der westlichen Seite verstärkt gegen die Regierung in Teheran. 

Nachdem die iranische Regierung zuletzt Waffenlieferungen an die Russische Föderation dementiert hatte, bestätigten nun iranische Diplomaten gegenüber der britischen Presseagentur Reuters die Lieferungen von Drohnen und weiteren Boden-Boden-Raketen. Auf ukrainischer Seite wird befürchtet, es könnte sich dabei um Raketen mit Reichweiten von deutlich über 1.000 Kilometer handeln. 

Im Falle einer Stationierung auf der Krim oder im russischen Belgorod wäre das gesamte Staatsgebiet der Ukraine wieder in unmittelbarer Gefahr. Eine Anfrage der Ukraine an die israelische Regierung zur Lieferung leistungsstarker Luftabwehrsysteme blieb bislang unbeantwortet, eine Anfrage des ukrainischen Verteidigungsministeriums nach einem Telefontermin mit dem israelischen Gegenpart lehnte die israelische Seite ab. Das ukrainische Außenministerium erwägt derweil den Abbruch aller diplomatischen Beziehungen mit der Islamischen Republik Iran als Antwort auf die jüngsten Waffenlieferungen. 

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte an, man werde den iranischen Lieferungen mit einer „klaren Antwort“ entgegentreten. Die Regierungen in Washington und London sprachen von einem Bruch internationaler Sanktionen durch die Lieferungen; dies sei auch „eine Verletzung des Atomdeals“, so ein Sprecher des britischen Außenministeriums. Verschiedene Mitgliedsländer der Europäischen Union hatten zuvor angekündigt, der Ukraine mit der Lieferung moderner Luftabwehrsysteme beistehen zu wollen, darunter auch die französische und die deutsche Regierung. 

Ende vergangener Woche gab zudem das US- Verteidigungsministerium (DoD) die Genehmigung eines „Presidential Drawdown“ für Sicherheitshilfe im Wert von bis zu 725 Millionen Dollar bekannt, um den kritischen Sicherheits- und Verteidigungsbedarf der Ukraine zu decken. Laut DoD ist diese Genehmigung der 23. Abzug von Ausrüstungsgegenständen aus den Beständen des US-Verteidigungsministeriums für die Ukraine seit August 2021.

 Auch im Norden der Ukraine verschlechtert sich die Sicherheitslage. Die Regierung des weißrussischen Präsidenten Lukaschenko hat in den letzten Tagen verstärkt Einheiten des Landes an die ukrainische und polnische Grenze verlegt. Dies geschehe, um auf „verstärkte ukrainische Spionageaktivitäten zu reagieren“, so ein offizieller Sprecher des weißrussischen Grenzschutzes. Zuvor hatte die weißrussische Zentralregierung angebliche Terroristen verhaftet, die nach Trainingsaufenthalten in Polen und der Ukraine nun in Belarus Anschläge geplant hatten, wie ein Sprecher des Innenministeriums mitteilte. 

Auf Bildern und Videos, die in Kurznachrichtendiensten zirkulieren, sind die kürzlich an die Grenze verschobenen Einheiten mit einem eigenen Zeichen gekennzeichnet, vermutlich um im Falle eines bewaffneten Konflikts die eigenen Einheiten von russischen und ukrainischen unterscheiden zu können. 

Auch die russische Zentralregierung verlegte sowohl Luft- als auch Bodentruppen in weißrussische Militärbasen im Land, darunter Abfangjänger und Marschflugkörper, wie Augenzeugen aus Minsk berichten. Offiziellen Angaben zufolge sollen die russischen Einheiten in Weißrußland lediglich an einer schon länger geplanten Militärübung teilnehmen. Ähnliches ereignete sich zuvor im Februar dieses Jahres, nach Beginn des Krieges überschritten russische Truppen allerdings die Grenze zur Ukraine und begannen den schlußendlich gescheiterten Vormarsch auf Kiew. 

Foto: Feuerwehrleute im Einsatz nach einem Angriff auf Gebäude in Kiew: Wellen von mit Sprengstoff beladenen Selbstmorddrohnen schlagen in der ukrainischen Hauptstadt ein