© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 42/22 / 14. Oktober 2022

Waldumbau mit der Büchse
Hungriges Wild freut sich auf die Anpflanzung klimastabiler Bäume
Dieter Menke

Ausgerechnet an Heiligabend empfingen die Bundesbürger die aufs Gemüt drückende Botschaft, daß es dem deutschen Wald außerordentlich schlecht gehe. In seiner 1971 erstmals ausgestrahlten TV-Dokumentation „Bemerkungen über den Rothirsch“ präsentierte Horst Stern, ein Pionier des Umweltjournalismus, auch gleich die dafür Verantwortlichen: die Jägerschaft. Weil die Grünröcke auf Trophäen versessen seien, legten sie zumeist nur auf Hirsche und Rehböcke an, während sie geweihlose Weibchen geringschätzten und schonten. Diese Praxis habe zu einem üppigen Wildbestand geführt, so daß viel zuviel Rot- und Rehwild den Wald bevölkere und durch den Verbiß junger Bäume wie das Schälen der Rinden enorme Schäden anrichte.

Fünfzig Jahre später, auf den Spuren Horst Sterns wandelnd, stellt der Umweltjournalist Stefan Scheytt fest, einen solchen Wald-Wild-Konflikt gebe es nach wie vor (Natur, 4/22). Lediglich aus der öffentlichen Wahrnehmung sei er weitgehend verschwunden. Ungeachtet dessen habe er sich im Zuge des „Klimawandels“ aber sogar noch so dramatisch zugespitzt, daß Scheytt wieder Alarm ruft: „Dem Wald geht es miserabel.“ Stürme, Dürre, Hitze und der Borkenkäfer setzten dem Forst im letzten Jahrzehnt schwer zu. Das Statistische Bundesamt meldet, daß noch nie so viele Bäume wegen Waldschäden geschlagen worden sind wie 2020 (JF 41/22). Scheytt verweist zudem auf die Waldzustandserhebung 2020, daß vier Fünftel aller Bäume, vor allem Fichte und Buche, deutliche Streßsignale senden.

Für die dringend notwendige Verjüngung der Wälder mit klimastabileren Bäumen sei es daher unumgänglich, so zitiert Scheytt ein Gutachten des staatlichen Thünen-Instituts, bis 2050 auf 2,85 Millionen Hektar „Risikobestände“ durch Myriaden junger Laubbäume zu ersetzen, um künftigen Waldschäden vorzubeugen. Das von Michael Müller, Professor für Waldschutz an der TU Dresden, formulierte Ziel dieses „Umbaus“ ist es, die Kiefern- und Fichtenbestände aus der Zeit der Nachkriegsaufforstungen in naturnähere Mischwälder mit ausgeglichener Altersstruktur zu überführen.

Dem ehrgeizigen Projekt stehe allerdings ein großes Hindernis im Wege. In den deutschen Wäldern tummle sich so viel Wild wie noch nie zuvor – mit Hunger auf Baumkeimlinge und frische Triebe. Seit Jahrzehnten steigen zwar die Jagdstrecken der Schalenwildarten. Allein 2021 erlegten Jäger 65.000 Stück Rot- und 75.000 Stück Damwild sowie gut eine Million Rehe. Hinzu kamen etwa 300.000 Rehe, die bei Verkehrsunfällen verendeten. Trotzdem wachsen die Populationen, dank des reichhaltigen landwirtschaftlichen Nahrungsangebots und milder Winter. „Als größter potentieller biotischer Schadfaktor“, bilanziert Michael Müller, „sind Wildeinflüsse heute relevanter als alle Borkenkäfer, Mäuse und blattfressenden Insekten zusammen“.

Weniger Lebensraum durch Landwirtschaft und Tourismus

Die einzige Lösung ist für den Landschaftsökologen Frank Christian Heute (Hagen) ein „angepaßter Rehwildbestand“. Im Klartext: die Tiere müssen wegen der wachsenden Wildschäden intensiver bejagt werden. Das fordern mittlerweile auch der mit fünfzehn Professoren besetzte Wissenschaftliche Beirat für Waldpolitik beim Bundeslandwirtschaftsministerium und ein von 72 Professoren unterzeichnetes Papier des Deutschen Verbands Forstlicher Forschungsanstalten.

Der Deutsche Jagdverband (DJV) hingegen hält nichts vom „Waldumbau mit der Büchse“. Ist doch für ihn das Wild nicht allein schuld am Verbiß. Auch wenn man die Hälfte der Rehe totschieße, dürfte die Waldverjüngung davon nicht profitieren. Das Problem, heißt es in einer DJV-Broschüre, bestünde nämlich nicht darin, daß es zu viele Rehe gebe, sondern darin, daß ihr Lebensraum durch Landwirtschaft und Tourismus immer kleiner werde. Wegen des dadurch verursachten Deckungs- und Äsungsmangels zöge sich Schalenwild notgedrungen in den Wald zurück, und deshalb nehme der Fraßdruck zu.

Aufgrund dieser Argumentation, so meint Stefan Scheytt, habe das Netzwerk „Wald mit Wild“, eine im Bundestag von „einflußreichen Männern aus Bayern“ unterstützte Allianz von „Adelsnachfahren, Jagdfunktionären und Waldbesitzern“, 2021 eine Novellierung des Bundesjagdgesetzes verhindert, die sie angeblich zu „Schädlingsbekämpfern“ degradiert und zur „Totalausrottung“ des Wilds verpflichtet hätte.

Wildtier-Informationssystem der Bundesländer: www.jagdverband.de