© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 41/22 / 07. Oktober 2022

Volkes Pflicht, Herrschers Wille
Wiedergelesen: Heinrich Manns Romanklassiker „Der Untertan“ über Autoritätshörigkeit
Regina Bärthel

Der Untertan: Hier ist er ganz, in seiner Sucht, zu befehlen und zu gehorchen, in seiner Rohheit und in seiner Religiosität, in seiner Erfolgsanbeterei und in seiner namenlosen Zivilfeigheit,“ schrieb Kurt Tucholsky 1919 über den im Jahr zuvor erschienenen Roman „Der Untertan“. Längst ist Heinrich Manns Gesellschaftssatire über das Wilhelminische Kaiserreich zum Klassiker geworden. Es ist Klassikern jedoch zu eigen, daß sie sich vom Kontext ihrer Entstehungsgeschichte emanzipieren, da sie etwas Grundlegendes thematisieren – und so hat der Roman auch heute nichts an seiner Gültigkeit eingebüßt. Wie aber definiert sich die Untertanenmentalität, ihr Autoritätsglaube und Opportunismus, wenn sich die Pole der Macht verändert haben?

Diederich Heßling, Fabrikantensohn aus dem fiktiven Provinzstädtchen Netzig, ist ein weiches, phantasievolles Kind voller Furcht vor Autoritäten – Vater, Schutzmann, Lehrer – und zugleich magisch angezogen von der Macht, die sie über ihn besitzen. Früh lernt er, durch Denunziation und Ausgrenzung seiner Mitschüler den maßgeblichen Instanzen zu entsprechen.

Während seines Studiums in Berlin findet Heßling Anschluß an eine studentische Verbindung und kann sich hier nach Herzenslust den Regeln ihres Systems anpassen. Mit markigen Worten zeigt er die vorgeschriebene Haltung – allerdings bleiben sie Lippenbekenntnisse, denn den freiwilligen Militärdienst, zu dem Heßling sich aus Prestigegründen gezwungen sieht, weiß er durch Simulantentum und Einsatz von Beziehungen abzukürzen. 

Dann, man schreibt das Jahr 1892, wird Heßling Zeuge eines Volksaufstandes: „Brot! Arbeit!“ fordern Massen von hungernden und frierenden Arbeitslosen auf dem Berliner Schloßplatz – doch das Auftreten Kaiser Wilhelms II. hoch zu Roß beruhigt die Unbotmäßigen. Diederich Heßling aber gerät in eine „begeisterte Raserei“, dort reitet sie, die Macht, die „wir alle lieben! Die wir im Blut haben, weil wir die Unterwerfung darin haben!“

Die Stützen der Gesellschaft sind machtbesessen und korrupt

Was sich mit Diederich Heßlings Rückkehr nach Netzig, wo er die väterliche Fabrik übernimmt, bestätigt. Wie ein Mikrokosmos bildet die Provinzstadt das Deutsche Reich ab: Die Stützen der Gesellschaft werden vertreten durch den karrieristischen Staatsanwalt, den dogmatischen Oberlehrer und den willfährigen Journalisten. Sie alle sind korrupt, machtbesessen und opportunistisch, allzeit bereit, ihre vermeintlichen Werte zugunsten des eigenen Vorteils zu verwerfen. Auch die Sozialdemokratie, hier in der Figur des Maschinenmeisters Napoleon (sic!) Fischer, verrät die Rechte der Arbeiter prompt zugunsten des eigenen Machtstrebens. Voller Einvernehmen lassen sie alle sich einbinden in die politischen und wirtschaftlichen Intrigen des Untertanen Diederich Heßling.

Einzig der alte Buck, Mitstreiter der Märzrevolution von 1848, hält die Werte der liberalen, bürgerlich-demokratischen Bestrebungen aufrecht. Doch diese einst so einflußreiche Respektsperson des Städtchens ist nun aus der Zeit gefallen. Voller Resignation erkennt er: „Wir sind besiegt worden, weil wir närrisch genug waren, an dieses Volk zu glauben. Wir glaubten, es würde alles das selbst vollbringen, was es jetzt für den Preis der Unfreiheit von seinem Herrn entgegennimmt.“ 

Der Roman könnte zum Verzweifeln sein, wären da nicht jene hochkomischen Szenen – immerhin handelt es sich beim „Untertan“ um eine Satire, in der sich Heinrich Mann auch kleiner Effekthaschereien bedient. So avanciert ausgerechnet die Pastorentochter zur Puffmutter während Diederich, der Wilhelm II. stets mit von Jubelschreien hochrotem Kopf begegnet, angesichts der angebeteten Macht jedoch immer wieder im Dreck landet. Und dann ist da natürlich der Showdown, die hart umkämpfte Ehrung von Kaiser und Untertan durch Denkmal und Orden. Doch beides geht unter in Sturm, Donnerblitz und sintflutartigen Regengüssen – als sei es die Strafe einer weit höheren Macht.

Heinrich Mann schloß den „Untertan“ 1914, zwei Monate vor Beginn des Ersten Weltkrieges, ab. Auszüge waren bereits in der Zeitschrift Simplicissimus erschienen, seine Veröffentlichung als Fortsetzungsroman sowie als Buch wurden jedoch abgebrochen beziehungsweise zurückgestellt: In der Kriegseuphorie, die die Deutschen wie ganz Europa erfaßt hatte, war er nicht opportun. Um so begeisterter wurde der Roman bei seinem Erscheinen 1918 aufgenommen und erfuhr nach Ende des Zweiten Weltkrieges wiederum eine Renaissance: Immer wenn die Deutschen einen Krieg verlören, so der lakonische Kommentar des Autors, griffen sie zum „Untertan“. Heute ist er, wie bereits in der DDR, in einigen Bundesländern wieder Pflichtlektüre an Schulen.

„Als ich (die Gestalt des ‘Untertans’, Anm.) aufstellte, fehlte mir von dem ungeborenen Faschismus der Begriff, und nur die Anschauung nicht“,  vermerkt Heinrich Mann in seinen Memoiren „Ein Zeitalter wird besichtigt“, entstanden 1943/44 im kalifornischen Exil. Unverkennbar beschreibe „Der Untertan“ die Entstehung des Nationalsozialismus, so das inzwischen tradierte Interpretationsmuster. Hierdurch entsteht ein Zirkelschluß: Der Untertan Heßling ist konservativ, vulgo rechts, also ist die Untertanenmentalität stets im politisch rechten Spektrum zu finden.

Tatsächlich aber beschreibt Heinrich Mann die Grundlagen zur Entstehung von Totalitarismen gleich welcher politischen Prägung. „Der ideale Untertan der totalitären Herrschaft ist nicht der Nazi oder der engagierte Kommunist, sondern Menschen, für die die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion, wahr und falsch, nicht mehr existiert“, konstatierte Hannah Arendt 1951 in „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“. Um diese Unterscheidung zu vernebeln oder gar verschwinden zu lassen, bedienen sich totalitäre Systeme seit jeher manipulativer Mittel zur Wahrung der Diskurshoheit, wozu moralisierendes Pathos, Desinformation und klischeehafte Diskreditierung von Kritikern gehören. In einer Analyse der Sprach- und Machttechniken des maoistischen Chinas stellte der amerikanische Psychiater Robert Jay Lifton 1989 fest: „Die Sprache des totalistischen Umfelds ist durch das gedankenbeendende Klischee gekennzeichnet. Die weitreichendsten und komplexesten menschlichen Probleme werden in kurze, stark reduzierte, endgültig klingende Phrasen gepreßt, die sich leicht einprägen und leicht ausdrücken lassen. Diese werden zum Anfang und Ende jeder ideologischen Analyse.“

Von der Majestätsbeleidigung zur „Delegitimierung des Staates“

Diederich Heßling ist längst zu einem solchen Klischee geworden: Er ist die Personifikation der rechten, ja faschistoiden Untertanenmentalität. Ob er sich aber heute wirklich „in der Uferlosigkeit des Internets zum notorischen Nörgler, Querulanten und Verschwörungstheoretiker“ entwickeln würde, wie die Literaturwissenschafterin Andrea Bartl in ihrem Nachwort zur aktuellen Reclam-Ausgabe von „Der Untertan“ vermutet? Oder würde er nicht eher seine Anschlußfähigkeit an die Gebote der Macht unter Beweis stellen? Denn was dem Untertan gänzlich fehlt, ist die kritische Distanz zur Herrschaftsmeinung; ihm fehlt das Bewußtsein für den Wert eigenen Denkens und Hinterfragens, für Selbstbestimmung mit allen ihren Risiken. Mit ihm verkommt Zivilcourage zu einem Gemeinschaftserlebnis, bei dem der Einzelne immer in der Sicherheit der Mehrheitsmeinung bleibt. Eine Mehrheitsmeinung allerdings, die nicht nur durch eine Vielzahl systemstabilisierender Medien, sondern ebenso durch eine größtenteils eindimensionale, da vom Staat finanzierte Form der politischen Bildung durch Stiftungen und NGOs etabliert wurde und wird. 

Diederich Heßling war 1892 Zeuge eines Protestes von hungernden und frierenden Arbeitslosen. Aufgrund der Energiekrise rechnet die deutsche Bundesregierung auch für den Herbst 2022 mit „Volksaufständen“ – hat sie jedoch vorsorglich in die Nähe des Rechtsextremismus gerückt. Und Kritikern der Regierungspolitik werden „wir“, so Kanzler Olaf Scholz, durch hartes Durchgreifen begegnen. Denn was einst die Majestätsbeleidigung, deren Definition selbstredend der Majestät oblag, könnte heute die „Delegitimierung des Staates“ sein.

Die Regierenden wie auch viele Bürger selbst scheinen jedoch eines vergessen zu haben: Der Souverän einer Demokratie ist das Volk – mit Rechten, die es zu schützen, und Pflichten, denen es nachzukommen gilt. „Der Untertan“ sollte daher auch heute als Erinnerung, ja Mahnung dienen, ihn nicht zur Beschreibung einer immerwährenden Gegenwart werden zu lassen: „Denn diese beiden Charaktereigenschaften sind an Heßling, sind am Deutschen auf das subtilste ausgebildet: sklavisches Unterordnungsgefühl und sklavisches Herrschaftsgelüst“ (Kurt Tucholsky, 1919).

Heinrich Mann: Der Untertan. Mit einem Nachwort von Andrea Bartl. Reclam, Ditzingen 2021, broschiert, 686 Seiten, 10,80 Euro