© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 39/22 / 23. September 2022

Mehr als blau-gelbe Kriegsrhetorik
EU-Energiepolitik: Kommissionschefin Ursula von der Leyen will mit grün-sozialistischen Notverordnungen Preise senken
Albrecht Rothacher

Kriegspathos und jede Menge Dirigismus – das war die Quintessenz von Ursula von der Leyens dritter Rede „zur Lage der Union“. Mit ihren Kommissarinnen kollektiv gelb-blau gewandet, versuchte sie sich vor einem schütter besetzten Europaparlament als Winston-Churchill-Enkelin. Sie sprach in Straßburg vom „wiederauflebenden brutalen Antlitz des Bösen“ und einem „Land europäischer Helden“, die sich „dem russischen Aggressor entgegenstellen“. Die Kommissionschefin betonte, daß die „Sanktionen von Dauer sein werden“, denn jetzt sei „die Zeit für Entschlossenheit, nicht für Beschwichtigungen“. Und der anwesenden Präsidentengattin Olena Selenskyj versprach sie: „Die Solidarität Europas mit der Ukraine ist unerschütterlich!“

Zusätzliche „Abschöpfungen“ von insgesamt 142 Milliarden Euro

An der Energiekrise und dem kommenden Kältewinter seien einzig Wladimir Putins Kriegspolitik und seine Instrumentalisierung der Erdgasexporte schuld. Die Abschaltung von Atom- und Kohlekraftwerken, die ausgetrockneten Stauseen des Hitzesommers und die selbstverordneten Importsperren für russische Streinkohle und Pipeline-Öl bleiben unerwähnt. Passend zu ihrem „European Green Deal“ forderte sie EU-weite „Notfallmarkt­interventionen“ bis mindestens April 2023: beim Elektrizitätsverbrauch um zehn Prozent, in Spitzenzeiten während drei bis vier Stunden täglich zusätzlich um fünf Prozent. So könne der Gasverbrauch bei der Stromerzeugung um vier Prozent sinken.

Es soll Auktionen oder Ausschreibungssysteme zur „Laststeuerung“ geben – energieintensive Produktionen, sofern sie überhaupt noch rentabel sind, dürften damit kaum noch möglich sein. Das Aufladen der hochsubventionierten E-Autos, das Geschirrspülen und Wäschewaschen müsse in die Nachtstunden verlegt werden. Aber wer kann das kontrollieren? Dann soll die Kopplung des EU-Strompreises an die Kosten der teuersten Gas- und Ölkraftwerke („merit order“) gekappt werden. Doch es bleibt nebulös, durch welches System die Strompreise dann bestimmt werden. Energieversorger wie Uniper oder die Wien Energie, die sich an den Terminmärkten verspekuliert haben, sollen großzügige Liquiditätshilfen erhalten.

Für Energieerzeuger, die Wind, Sonne, Wasserkraft, Holz, Biomasse, Müll, Kohle oder Atomkraft verstromen und die bislang von den hohen Gaspreisen profitierten, soll eine Erlösobergrenze von 180 Euro je Megawattstunde (MWh; 18 Cent pro kWh) eingeführt werden: „Darüber hinausgehende Einnahmen werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten einbehalten und an die Energieverbraucher umverteilt, um die Auswirkungen der hohen Energiepreise abzufedern.“ Dies könne angeblich 117 Milliarden Euro in die öffentlichen Kassen spülen. Im regionalen Spotmarkt kostete der Strom in der Spitze 450 Euro pro MWh. Im Sommer 2019 waren es nur 45 bis 50 Euro gewesen.

Zusätzlich sollen „Gewinnüberschüsse“ der „Erdöl-, Erdgas-, Kohle- und Raffinerieunternehmen“ durch „befristeten Solidaritätsbeitrag“ verstaatlicht werden. Es gehe dabei um Profite, „die mehr als 20 Prozent über dem Durchschnitt der Gewinne der vorangegangenen drei Jahre liegen“. Die Regierungen der EU-Staaten „ziehen diese Einnahmen ein“ – dies bringe „schätzungsweise 25 Milliarden Euro zur Senkung der Energiekosten“. Insgesamt sollen so 142 Milliarden Euro umverteilt werden – daß die EU-Verbraucher das Geld selbst bezahlt haben, verrät die EU-Kommission nicht.

Und wer soll davon profitieren? Die Liste der vorgeschlagenen Wohltaten ist wohlklingend und unverbindlich: Möglich sei die „Unterstützung von Energieendverbrauchern“, insbesondere von „finanziell schwächeren Haushalten und Unternehmen“. Die Milliarden sollen Anreize für Investitionen „in erneuerbare Energien, Energieeffizienz oder andere Technologien zur Verringerung der CO2-Emissionen“ geben. Auch der „ökologische Wandel“ und „Projekte im Einklang mit den REPowerEU-Zielen“ sollen finanziert werden. „Energieintensive Industriezweige“ bekommen aber nur dann Hilfen, „sofern sie in erneuerbare Energien oder Energieeffizienz investieren“. Italien und Griechenland wollten darauf nicht warten: Sie haben sich mit 17 bzw. acht Milliarden Euro aus anderen EU-Töpfen zur Subventionierung der Stromkosten ihrer Bevölkerung im voraus bereits selbst bedient.

Die höchsten Energiepreise der Welt bringen Deindustrialisierung

Wie schon in den Hochzeiten der Corona- und Klimahysterie lassen die Kommissionspräsidentin und ihr Vize Frans Timmermans von den niederländischen Sozialisten jede Krisen-Gelegenheit aus, um sie zur Machterweiterung zu nutzen – um dann doch kläglich zu scheitern. Vom gemeinsamen EU-Gaseinkauf mit Importpreisdeckel ist keine Rede mehr. Aserbaidschan, Algerien oder die USA verlangen eben Marktpreise. Ja, die EU-Gasspeicher sind inzwischen zu 84 Prozent gefüllt – aber vor allem mit extrem teuer eingekauftem Flüssiggas (LNG). Einen großen Tanker damit zu füllen kostet in den USA derzeit „rund 60 Millionen Euro. In Europa ist das Gas dann 200 bis 300 Millionen Euro wert – je nach tagesaktuellen Preisen“, das behauptet nicht nur Sahra Wagenknecht, sondern das berichtete am Wochenende auch der Energieexperte Dirk Vilsmeier vom Bayrischen Rundfunk.

In ihrer Kriegsrhetorik und dem erklärten Willen zur nachhaltigen Schädigung der russischen Wirtschaft – unabhängig davon, wie lange sich Putin an der Macht halten wird – kam es von der Leyen nicht in den Sinn, den Moskauer Kriegsherrn beim Wort zu nehmen und von Berlin die Inbetriebnahme der Ostseepipeline Nord Stream 2 zu fordern. Das EU-Gasproblem der EU wäre damit gelöst, die Preise zurück auf normal und die vom Kreml abgeschöpften Übergewinne von Gazprom – aber auch von Norwegen und der globalen LNG-Lieferanten – verschwunden. Immerhin sind russische Gasimporte aus guten Gründen von den bisherigen EU-Sanktionspaketen ausgenommen.

Alternativ könnte Brüssel die Berliner Ampel-Regierung auffordern, Angela Merkels desaströse „Energiewende“ von 2011, also den deutschen Atomausstieg, aufzuheben. Politische Begründung: Rücksichtnahme auf die anderen 26 EU-Partner und die aus dem Lot geratenen Energiemärkte. Ende September will von der Leyen ihre Notverordnungen den 27 EU-Energieministern – unter Umgehung des Europaparlamentes – zur Beschlußfassung vorlegen. Der Segen der grünen Minister Robert Habeck (in Berlin für ihre Wiederbestellung im Jahr 2024 zuständig) und Leonore Gewessler (Wien) ist ihr gewiß. Wie die Kommission allerdings aus ihrem Zwangsbewirtschaftungssystem je wieder auszusteigen gedenkt, bleibt höchst ungewiß. Zur Erinnerung: Der 1991 ursprünglich nur für ein Jahr eingeführte „Solidaritätszuschlag“ anläßlich der deutschen Wiedervereinigung ist bereits stolze 31 Jahre alt.

EU-Pläne zur Energiepolitik: ec.europa.eu