© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 38/22 / 16. September 2022

„Ethisch kollabiert“
Lebensschutz: Am Wochenende gehen in Berlin wieder Tausende für die Rechte der ungeborenen Kinder auf die Straße
Zita Tipold

Einmal im Jahr prägen bunte Luftballons, grüne Demoschilder und Holzkreuze das Berliner Stadtbild rund um das Brandenburger Tor. Der „Marsch für das Leben“ ist eine bedeutsame Tradition geworden. Aus ganz Deutschland reisen stets Tausende Menschen an, um ein Zeichen zu setzen: Jedes Kind ist willkommen – egal ob geplant oder ungeplant, gesund oder behindert. Entsprechend warmherzig ist die Stimmung auf der Veranstaltung, die weniger an eine Demonstration, sondern eher an ein heiteres Familientreffen erinnert. Freilich ohne den Ernst der Sache aus dem Blick zu verlieren. 

Am Samstag findet der „Marsch für das Leben“ zum 18. Mal statt. In diesem Jahr kommt der Veranstaltung des Bundesverbands Lebensrecht eine besondere Dringlichkeit zu. Ende Juni hat der Bundestag das bis dahin im Strafgesetzbuch verankerte  sogenannte Werbeverbot für Abtreibungen mit den Stimmen von SPD, Grünen, FDP und Linkspartei ersatzlos gestrichen. Der Paragraph 219a stellte es unter Strafe, solche Eingriffe anzubieten, anzukündigen oder anzupreisen, um dadurch einen finanziellen Vorteil zu erlangen. Das gleiche galt, wenn dies auf „grob anstößige Weise“ geschah. Die Entscheidung setzte ein Ende an eine jahrelange Debatte zwischen Abtreibungsbefürwortern auf der einen und Lebensrechtlern auf der anderen Seite. 

Während erstere auf ein angebliches Informationsdefizit verwiesen, warnte die Gegenseite vor einer Normalisierung und Erleichterung solcher Eingriffe. Tatsächlich war bereits damals öffentlich einsehbar, welche Ärzte in Deutschland Abtreibungen anbieten. Stichhaltig war das Argument von linker und liberaler Seite also nicht. „Mit der kompletten Streichung ermöglichen wir auch proaktive Werbung, und das suggeriert dann, daß es um eine normale ärztliche Leistung geht. Und das ist es nicht“, kritisierte die CDU-Bundestagsabgeordnete Elisabeth Winkelmeier-Becker. 

Das Lebensrecht könnte indes weiter in Bedrängnis geraten. Wie Familienministerin Lisa Paus (Grüne) nach der Streichung des Werbeverbots für Abtreibungen angekündigt hatte, will die Regierung eine Kommission zur Diskussion über den Paragraphen 218 einrichten, nach dem diese Eingriffe strafbar sind. Schon jetzt werden in Deutschland jedes Jahr rund 100.000 Kinder abgetrieben. Diese Woche meldete das Statistische Bundesamt einen erneuten Anstieg der Zahlen im zweiten Quartal 2022. Rund 25.600 Abtreibungen gab es von April bis Juni. Das ist ein Zuwachs von 11,5 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Bereits im ersten Quartal war die Zahl gegenüber 2021 gestiegen.

„Wir leben in Zeiten, in denen die Uno und die EU ethisch kollabieren und Abtreibung als Menschenrecht und Gesundheitsversorgung etablieren wollen“, sagte die Vorsitzende des Bundesverbands Lebensrecht, Alexandra Maria Linder, der JUNGEN FREIHEIT mit Blick auf die Veranstaltung am Samstag. Der „Marsch für das Leben“ setze jedes Jahr ein öffentliches Zeichen „für humane Alternativen, für die Grundsätze einer menschenwürdigen Politik und für das, worum es bei all diesen Themen wirklich geht: die Bewahrung der Menschenwürde, der sich unser Grundgesetz verpflichtet hat“. 

Auch in den USA war zuletzt heftig über das Thema Lebensrecht diskutiert worden. Der Oberste Gerichtshof hatte im Juni das landesweite Recht auf Abtreibung gekippt. Die Bundesstaaten können so künftig selbst entscheiden, wie sie die Abtreibungsregeln ausgestalten. Viele „Pro Choice“-Anhänger witterten einen konservativen „Rollback“. 

Das Grußwort zum „Marsch für das Leben“ kommt in diesem Jahr von dem evangelischen Theologen Ansgar Hörsting, der unter anderem auf „nicht gut differenzierte Zwischentöne“ in der Abtreibungsdebatte sowie eine mangelhafte Berichterstattung verweist. Für das Lebensrecht einzutreten bedeute nicht, gegen die Rechte von Frauen zu sein, sondern gegen ein Umfeld, das den Eindruck erwecke, Kinder seien eine Last. Die Konsequenzen einer Abtreibung würden aber häufig verharmlost. Viele Frauen litten im nachhinein darunter. 

„Einer der schwersten Angriffe auf die Kultur des Lebens“

Das kann auch Kristijan Aufiero vom Verein Pro Femina bestätigen. Seine Lebensschutz-Initiative „1000plus“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, Schwangeren bei Herausforderungen und Zweifeln mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Immer wieder erhielten sie Nachrichten von Frauen, die abgetrieben haben und den Eingriff im nachhinein bitter bereuten, erzählte der Lebensrechtler der jungen freiheit. Wer sich trotz einer Konfliktsituation für sein Kind entschieden habe, bekunde seiner Erfahrung nach rückblickend voller Stolz: „Es war hart, es war herausfordernd, aber ich habe es geschafft.“  Der „Marsch für das Leben“ setze ein wichtiges Zeichen: Er stehe für ein uneingeschränktes Ja zum Leben. Aufiero befürchtet, daß die Streichung von Paragraph 219a erst der Anfang ist und Deutschland beim Thema Abtreibungen auf eine „totale Straffreiheit“ zusteuert. „Das ist einer der schwersten Angriffe auf die Kultur des Lebens seit der Nachkriegszeit.“ Daher danke er allen Teilnehmern der Demonstration am Samstag. 

Begleitet wird der „Marsch für das Leben“ in der Regel von mitunter aggressiven Protesten der Gegenseite. Im vergangenen Jahr hatte es mehrere Störungen durch Linksradikale gegeben. Sie skandierten Parolen wie „Hätt’ Maria abgetrieben, wärt ihr uns erspart geblieben“. Unter den rund 4.000 Teilnehmern des vorigen Jahres waren wie üblich zahlreiche Familien mit Kindern. Auch in diesem Jahr werden wieder junge und alte Menschen erwartet, die gemeinsam ein Zeichen für das Leben setzen. 

Foto: Teilnehmerin des „Marschs für das Leben“: In diesem Jahr ist das Thema wegen der Abschaffung des Werbeverbots für Abtreibungen besonders brisant