© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 36/22 / 02. September 2022

Die Leitkultur der Atomangst
Anna Veronika Wendland will mit neuen Kernkraftwerken die deutsche Energiewende retten
Christoph Keller

Wenn in diesen Wochen Robert Habeck auftrumpft, er denke nicht daran, die Laufzeit der verbliebenen drei deutschen Kernkraftwerke über den 31. Dezember 2022 hinaus zu verlängern, wirkt ein Buch mit dem Titel „Atomkraft? Ja bitte!“ wie aus der Zeit gefallen. Zumal die Autorin Anna Veronika Wendland, eine habilitierte Osteuropahistorikerin, auf den ersten Blick nicht kompetent scheint, bei einem Thema mitzureden, das in die technologisches Spezialwissen verlangenden Details von Reaktorsicherheit, Strahlung und Atommüll-Entsorgung führt.

Dabei ist die ungewöhnliche Kombination Historikerin und Kernkraft-Lobbyistin schnell erklärt: Die 54jährige, politisiert in der deutschen Anti-AKW-Bewegung, entschied sich für ihr Fachgebiet im April 1986, als die Sowjetunion wegen des havarierten ukrainischen AKW Tschernobyl und der beginnenden Perestroika im Zentrum der Aufmerksamkeit westdeutscher Baby Boomer stand. 1989/90 studierte sie in Kiew und näherte sich langsam ihrem heutigen Arbeitsschwerpunkt, der Geschichte der „kerntechnischen Moderne in Osteuropa“.

Die meisten wissen nichts über Reaktorsicherheit und Fukushima

Diese erforschte sie nicht nur in Bibliotheken, sondern als „teilnehmende Beobachterin“, die ihre Praktika in ukrainischen, litauischen und deutschen AKWs absolvierte. Daher dürfte sie wohl die Technikhistorikerin mit dem umfangreichsten Fachwissen über diese in Deutschland von der „Klimakanzlerin“ Angela Merkel (CDU) auf den Aussterbeetat gesetzte, von Wendland so titulierte „Klimaschutz-Technologie“ sein.

Der Ukas der damaligen CDU-Vorsitzenden, der 2011 nach dem Fukushima-GAU den deutschen Kernkraftwerken den Garaus machte, habe jenen blanken Irrationalismus beleuchtet, der unsere „Leitkultur der Atomangst“ seit den 1970ern präge und zum Markenzeichen der „Energiewende“ geworden sei. Wie Wendland in dem Kapitel „Was Sie über Reaktorsicherheit wissen sollten“ ausführt, hätte das bayerische AKW Isar-II am Standort Fukushima selbst einem Tsunami getrotzt. Es wäre, wie dies ein Gutachten der deutschen Reaktorsicherheitskommission der Physikerin Merkel auch klar zu machen versuchte, „sehr wahrscheinlich nichts passiert“, weil die tiefgestaffelten deutschen Not- und Nachkühlsysteme einen Druckwasserreaktor wie Isar-II selbst gegen Störfälle solchen Kalibers besser wappnen. Doch statt technische Unterschiede zu berücksichtigen, sei die von Merkel eingesetzte Ethik-Kommission (zusammengesetzt fast ausschließlich aus Sozialwissenschaftlern, Ex-Politikern und Kirchenvertretern ) zu Vor- und Nachteilen des Atomausstiegs ausschließlich darauf fixiert gewesen, deren „Bauchgefühl“-Entscheidung zu legitimieren.

Für Wendland ein Beweis mehr für ihre These, daß Politik, Wirtschaft, Medien und Wissenschaft ein engmaschiges Netz gesponnen haben, das die früher in linken Medien beklagte „Verfilzung“ aller Akteure im „Atomstaat“ weit in den Schatten stelle. Es gebe nämlich zehn Jahre nach der Energiewende „keine produktiven Neinsager mehr“.

Was der geschmähten „Atomlobby“ nie gelang, hat die „Lobby der erneuerbaren Energien“ (EE) gemeistert: die Opposition zu integrieren. Umweltbewegungen und das Gros der „Medienschaffenden“, die sich früher gern als Pfahl im Fleische der Herrschenden inszenierten, agieren nun als Jubelperser des Energiewendestaats. Damit berührt Wendland die nahezu totalitäre Geschlossenheit einer Herrschaftskaste, der ihre Weltrettungsphantasien zu zivilreligiöser Gewißheit gereift sind.

Die Autorin ist keine EE-Gegnerin. Im Gegenteil: Nur mit Wind und Sonne lasse sich eine klimafreundliche deutsche Energiezukunft sichern. Aber nicht ohne ergänzende Kernkraft. Damit entspreche ihr Pro-Kernkraft-Plädoyer lediglich den Vorgaben von Weltklimarat (IPCC) und EU-Kommission, die auf den Mix von EE und Kernkraft etwa im Verhältnis zwei zu eins setzen. Dies war noch die Geschäftsgrundlage des Jahres 2000, als der Atomanteil an der Stromversorgung bei 30 Prozent lag und das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) des Schröder-Kabinetts in Kraft trat.

Wären zu diesem Grundstock die Erneuerbaren hinzukommen, läge der Anteil CO2-armer Stromerzeuger heute bei 80 Prozent, dem von der Ampel-Koalition für 2030 angestrebten Ziel. Für den Klimaschutz sei durch die aberwitzige Weichenstellung, mit Wind und Sonne eine CO2-arme Stromerzeugung aufzubauen und gleichzeig eine andere, die Kernkraft, abzubauen, mindestens ein Jahrzehnt verlorengegangen.

Schiere Unwissenheit erklärt für Wendland die Hybris, die „Klimaneutralität“ einer großen Industrienation mit EE erreichen zu wollen. Eine Utopie, die an frühere deutsche Träumereien wie „Lebensraum im Osten“ oder „vollendeter Kommunismus“ erinnert. Wie diese ideologiegetriebenen „Projekte“ proklamiere auch die „real existierende Energiewende“ gigantische Ziele, propagiere sie in Hochglanzprogrammen und – scheitere schließlich. So sollen spätestens 2050 zwei statt derzeit 0,9 Prozent des Bundesgebiets, 7.100 Quadratkilometer, für Windparks ausgewiesen sein.

Anhaltende Subventionierung von Wind- und Sonnenstrom

Doch reiche die Verdoppelung der Windturbinen schlicht nicht aus, um der gesamten, bis dahin „klimaneutralen“ Industrie grünen Strom zu liefern. Nach seriösen Berechnungen liege der Strombedarf der ersehnten „voll dekarbonisierten Gesellschaft“ 2050 bei 1.500 Terawattstunden. Um die zu produzieren, wären Turbinen nicht auf nur zwei, sondern auf sechs Prozent der Landesfläche zu installieren – auf 23.000 Quadratkilometern, der Fläche Mecklenburg-Vorpommerns. Die Ampel-Zahlen dienen mithin der vorsätzlichen Täuschung der Öffentlichkeit.

Wobei es auf eine Täuschung mehr oder weniger gar nicht mehr ankomme. An das vom Äquivalent „einer Kugel Eis“ etwa, das die Subventionierung von Wind- und Sonnenstrom monatlich mehr kosten werde, möchte sich im Land der höchsten Verbraucherstrompreise Europas kein Grüner mehr erinnern. Die Zusicherung von Jürgen Trittin stimmte 2004 – unter Angela Merkel war dann bald täglich eine Kugel fällig.

Auch das Versprechen, die Energiewende werde Deutschlands Ökobilanz massiv verbessern, klinge heute angesichts des „globalen Rattenrennens um die billigsten Rohstoffe“ hohl: „Das Grundproblem des Raubbaus an Naturreserven wird durch die extensiven erneuerbaren Energien nicht nur nicht beseitigt, sondern sogar verschärft.“ Und von der verheißenen sozialen Gerechtigkeit im Wind-und-Sonnen-Paradies könne im Rückblick auf zwanzig Jahre Umverteilung im deutschen „Energiewende-Kapitalismus“, die eine schmale Schicht von Profiteuren und breite Bevölkerungskreise von „Energie-Enteigneten“ hervorbrachte, schwerlich die Rede sein.

Anna Veronika Wendland: Atomkraft? Ja bitte! Klimawandel und Energiekrise. Wie Kernkraft uns jetzt retten kann, Quadriga Verlag, Köln 2022, gebunden, 287 Seiten, 20 Euro