© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/22 / 26. August 2022

Vom Dnjepr bis nach Montana
US-Autor Mark Sullivan beschreibt das Schicksal einer Familie von Schwarzmeerdeutschen
Ronald Gläser

Die Martels sind Volksdeutsche in der Ukraine, Angehörige jener Volksgruppe, die zwischen die Fronten geriet und in den „Bloodlands“ ein schweres Schicksal zu tragen hatte. Vater Emil entscheidet sich im März 1944 zur Flucht, als die Rote Armee anrückt. Mit seiner Frau Adeline, seinen zwei Söhnen und weiteren Familienangehörigen fährt er im Planwagen nach Westen. Schon auf dem Weg nach Transnistrien finden sich die Martels plötzlich in einer Panzerschlacht zwischen deutschen und sowjetischen Panzern wieder. Es wird nicht die einzige gefährliche Situation bleiben.

Bestsellerautor Mark Sullivan springt ständig in der Zeit hin und her, aber ohne den Leser dabei zu verwirren. So schildert er eindrücklich die Hungersnöte und die Unterdrückung unter den Sowjets in den dreißiger Jahren. Adelines Vater ist von der sowjetischen Geheimpolizei GPU abgeholt worden, nur weil er einen Sack Getreide nicht bei der Partei abgeliefert hat. Er verschwand nach Sibirien. 

Auch ein großes NS-Kriegsverbrechen wird sehr ausführlich und spannungsreich geschildert. Jedoch: Die Angst, wieder unter der sowjetrussischen Knute leben zu müssen, ist größer, so daß Emil seine Bedenken gegenüber der NS-Herrschaft zurückstellt. Er will nach Westen, um seine Familie zu schützen. Über Budapest gelangt die Familie nach Welun, einer bis 1939 polnischen Stadt im jetzt deutsch okkupierten Reichsgau Wartheland, wo sie im Haus einer deportierten jüdischen Familie unterkommt. Ihnen dämmert, was sich hier abgespielt haben könnte. Im Januar 1945 wird die Familie von der Front überrollt. Emil geht in Kriegsgefangenschaft nach Poltawa, seine Frau und die Jungs können sich nach Mitteldeutschland durchschlagen. Keiner weiß, was aus dem jeweils anderen geworden ist.

Adeline („Stalin ist schlimmer als Hitler“) macht sich Gedanken über eine Flucht aus dem sowjetisch besetzten Teil Deutschlands, warnt die hiesigen Deutschen, die sie aufnehmen, eindringlich vor der kommunistischen Diktatur, die gerade erst entsteht. Da erhält sie einen Brief aus einer Westzone: Emil konnte unter abenteuerlichen Umständen aus russischer Kriegsgefangenschaft fliehen und hat es nach Westen geschafft. Doch die Familie ist noch in der Ostzone und unter Beobachtung durch den KGB. Letztlich gelingt auch die letzte Flucht über die grüne Grenze, und die Kernfamilie ist wieder vereint.

Wenige Jahre später wandern die Martels an Bord eines Truppentransporters nach Amerika aus und finden in Montana jenes „letzte grüne Tal“, von dem sie immer geträumt haben. Die Handlung endet nicht mit „Und wenn sie nicht gestorben sind …“, sondern damit, daß der Autor auf den letzten Seiten die Familiengeschichte bis zur Gegenwart weitererzählt. Es handelt sich nämlich nicht um eine fiktive Familiensaga, sondern um eine wahre Geschichte, die ihm die Martels so geschildert haben. Und das kam so: Jemand berichtete ihm von den Martels und sagte: „Sprechen Sie doch mal mit Bill Martel.“ Gesagt, getan: Sullivan suchte den 78jährigen Bill Martel, den Sohn von Emil und Adeline, auf und fragte ihn nach seiner Familiengeschichte. Der begann daraufhin zu berichten, und Sullivan konnte seinen Ohren kaum trauen. Sofort sagte er zu, diese Geschichte schreiben zu wollen.

Handlung spielt zu einem großen Teil auf dem Gebiet der Ukraine

Und nicht nur das: Er hat mit Bill Martel (alias Willi) die Schauplätze aufgesucht, wohl um sich selbst einen Eindruck zu verschaffen, noch mehr Erinnerungen aus ihm herauszukitzeln und längst vergessene Verwandte ausfindig zu machen.

Das Buch ist ein lebendiges Stück Geschichte, das gerade in diesen Tagen wieder topaktuell ist, da sich die Handlung zu einem großen Teil auf dem Gebiet der Ukraine abspielt. Um so merkwürdiger ist es, daß das Buch weder in der Ukraine noch in Deutschland spürbare Resonanz ausgelöst hat. In den USA fand es ein größeres Echo, wohl auch weil Sullivan („Unter blutrotem Himmel“) schon vorher auflagenstarke Kriegsliteratur aus der Zeit des Zweiten Weltkrieg verfaßt hatte.

Aus deutscher Sicht ist „Das letzte grüne Tal“ vor allem deshalb wertvoll, weil es die schwierige Situation der Volksdeutschen in Osteuropa thematisiert – und zwar vor einem internationalen Publikum. Welcher Roman macht das schon? Noch nicht mal die Deutschen selbst beschäftigen sich so mit diesem Teil ihrer Geschichte. Die Lektüre ist daher vielleicht lehrreicher als ein Besuch im durchgegenderten Zentrum gegen Vertreibung in Berlin.

Es gibt Ungenauigkeiten, und die dürfen nicht unerwähnt bleiben. Die Schilderungen aus der sowjetischen Besatzungszone erscheinen unrealistisch, inklusive der Dramatisierung der Flucht über die grüne Grenze. Wieso hat die Mutter mit den Kindern nicht einfach die S-Bahn nach West-Berlin genommen? Das ist eine von den kleineren Fragen, die sich der Leser unweigerlich stellt. 

Aber wirklich ärgerlich sind die Bezeichnungen von Orten und die Benennung von Grenzen – und das, obwohl das Buch im Original korrekterweise mit einer Landkarte im Anhang mit den Grenzen von 1937 ausgeliefert wird. Der Autor orientiert sich an den heutigen Grenzen und spricht beispielweise davon, die Martels hätten „über die Oder“ nach Deutschland fliehen wollen. Das hätte 1945 niemand so gesagt, weil auch Breslau und Liegnitz deutsche Städte waren. Im niederschlesischen Liegnitz soll Emil Martel im März 1945 von polnischen Milizionären festgenommen worden sein, nachdem er eben noch deutsche Soldaten hat abziehen sehen. Das paßt alles vorn und hinten nicht. Die Stadt wurde im Februar 1945 von der Roten Armee erobert. Das zu recherchieren ist nicht schwer und hätte spätestes bei der deutschen Übersetzung korrigiert werden müssen.

Davon abgesehen trieft das Buch natürlich von einem US-Überlegenheitsgefühl gegenüber der europäischen Tristesse der Unfreiheit, was im Kontext der Geschichte vielleicht zutreffend sein mag, aber mit der heutigen Realität kollidiert. Davon abgesehen hat der frühere Enthüllungsjournalist der New York Times ein atemberaubendes Buch geschrieben, das zeigt, wie Aspekte der deutschen Geschichte publikumsorientiert erzählt werden können. Schade, daß ein US-Amerikaner kommen und diese Thematik aufgreifen muß. Wo ist der deutsche Mark Sullivan? Es gibt Tausende solcher Dramen, die erzählt werden wollen.


Mark Sullivan:  Das letzte grüne Tal. Roman. Verlag Tinte und Feder, Luxemburg 2021, broschiert, 619 Seiten, 9,99 Euro