© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 35/22 / 26. August 2022

Kelch der Normalisierung
Wladimir Putin und das türkisch-syrische Verhältnis: Ankara öffnet vorsichtig eine kleine Tür zum Nachbarn
Ferhad Seyder

Es schlug ein wie ein Blitz. Die etwas verspätete Bekanntgabe des türkischen Außenministers Mevlüt Çavuşoğlu, daß er am Rande der Konferenz der Blockfreien Staaten in Belgrad im vergangenen Oktober den syrischen Außenminister Faisal al-Miqdad getroffen habe, gilt als Signal dafür, daß die Türkei versucht, die Beziehungen zum Nachbarland nun nach mehr als zwölf Jahren Spannungen und kriegerischer Handlungen zu normalisieren.

Die Begegnungen mit den hohen Amtsträgern der beiden Staaten, vor allem das Treffen zwischen dem türkischen Geheimdienstchef Hakan Fidan und dem Chef des syrischen Geheimdienstes Ali Mamluk, fanden in Abständen statt. Es scheint aber, daß der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan in der gesamten Region des Nahen Ostens und der Golfregion die Minimalisierung der Konflikte zur Maxime seiner Außenpolitik gemacht hat. Seine neue Außenpolitik hat als Ergebnis die Rückkehr zum alten Modell der Reduzierung der bilateralen Konflikte. Kein Wunder, denn im Juni 2023 stehen die Präsidentschaftswahlen an und in den Umfragen sieht es für Erdoğans AKP nicht gut aus. 

Die mehr als drei Millionen syrischen Kriegsflüchtlinge belasten die Staatskasse und die Bevölkerung ist für ihre baldige Repatriierung. Auch der Koalitionspartner, die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) und deren Vorsitzender Devlet Bahceli, plädieren für einen Ausgleich mit Baschar al-Assad und die Rückkehr der Flüchtlinge.

Moskau und Ankara heben territoriale Integrität Syriens hervor

Die Türkei, die nach vier Grenzkriegen weite Grenzgebiete mit Syrien unter ihre Kontrolle gebracht hat, droht seit Monaten mit einem weiteren Angriff, dessen Ausmaß bislang nicht definiert ist. Zur Verwaltung und Verteidigung der eroberten Gebiete sowie zur Aufrechterhaltung des Waffenstillstands in der Provinz Idli hat die UN den Vertrag von Idlib durchgesetzt, um die Situation der Bevölkerung in dieser Provinz zu stabilisieren. Die Türkei sichert die Versorgung der Bevölkerung zu. Das Engagement der Türkei bezieht sich auch auf die Finanzierung der Syrischen Nationalarmee (SNA), die als der engste Verbündete Ankaras gilt. 

Seit dem Ausbruch des Bürgerkrieges in Syrien plädierte die türkische Führung für die Errichtung einer Pufferzone entlang der Grenze mit Syrien, zum einen um in der Grenzregion die Kriegsflüchtlinge anzusiedeln, zum anderen um zwischen sich und den von den Kurden besiedelten Gebieten eine Barriere zu errichten.

Mit dieser Idee konnte sich die Türkei aber nicht durchsetzen, weder Syrien noch der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen stimmten zu. So begann die Türkei 2016 in eigener Regie mit dem Aufbau der Pufferzone. Da die Türkei nicht unbedingt der Feind des Islamischen Staates war, wäre diese Zone keine unabdingbare Sicherheitsnotwendigkeit gewesen. Ankara verfolgt eine erweiterte Sicherheitspolitik. Sie steht in einem engen Zusammenhang zu den Befürchtungen der Türkei, daß in einem der Nachbarstaaten eine kurdische Quasistaatlichkeit entstehen und diese für die Kurden in der Türkei modellhaft sein könnte. 

Diese schien eine reale Gefahr zu sein, als in der Türkei die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) entstand, die bis in die 1990er Jahre die Gründung eines kurdischen Staates zu ihrem Ziel erklärte. Als 2011 nach dem Ausbruch des Arabischen Frühlings die PKK-Ableger in Syrien faktisch durch die Unterstützung der syrischen Regierung in der Grenzregion zur Türkei die Macht übernahmen, witterte die Türkei die Gefahr eines kurdischen Staates. Die Erklärung der autonomen Region in Nordostsyrien 2013 verstärkte die Befürchtungen Ankaras, zumal die PKK-Funktionäre die reale Macht kontrollierten und nicht die Partei der Demokratischen Einheit (PYD) und ihr bewaffneter Arm, die Volksverteidigungseinheiten (YPG). 

Nachdem die kurdische YPG im Jahr 2015 die Angriffe des IS abgewehrt hatten und, unterstützt durch die westliche Luftwaffe, in die Offensive gingen, änderte die PYD ihre Strategie. Deren Quasistaat sollte gemäß der Lehre von PKK-Gründer Abdullah Öcalan einen übernationalen Charakter haben. 2015 löste „Region Nordostsyrien“ die kurdische Bezeichnung „Rojava“ ab. In den Organen und der Führung der Institutionen waren alle ethnischen und religiösen Gruppen vertreten.

Der Wandel in Rojava wurde in der Türkei nicht honoriert. Wahrscheinlich wurde der Verzicht auf einen kurdischen Staat und auf den kurdischen Nationalismus in Ankara als rein taktischer Trick gesehen. Der Vorwurf des Separatismus und Terrorismus wurde entsprechend aufrechterhalten. 

Parallel dazu verfolgte Erdoğan auch gegenüber der von den USA unterstützten kurdisch-arabisch-christlichen Koalition der Syrisch Demokratischen Kräfte (SDF) eine doppelte Strategie: Einerseits sorgten Ankaras ständige Drohung mit Gewalt sowie der Einsatz von Gewalt für die Destabilisierung des nordostsyrischen Gebietes, andererseits versuchte Erdoğan mit Unterstützung von Rußland und dem Iran zu verhindern, daß die SDF bei der Suche nach einer politischen Lösung des Konflikts mitwirken konnte. 

So durfte die SDF weder am Sotschi-Prozeß (2019) noch am Astana-Prozeß (2017) teilnehmen. Beide Treffen sollten die Regelung des syrischen Konfliktes ermöglichen. Doch die USA haben nur die SDF als verläßlichen Partner. Aus diesem Grund mußte die damalige Trump-Administration, nachdem sie die türkischen Eroberungen der Grenzregion von Tal Abiad bis Ras al-Ain toleriert hatte, ihren Plan, alle Truppen aus Syrien abzuziehen, wieder rückgängig machen. Auch Präsident Joe Biden setzt weiter auf die Präsenz von US-Truppen in Nordostsyrien.

Im Rahmen ihrer Bestrebungen um Hegemonie in den südwestlichen Grenzgebieten bildete die Türkei seit den Vereinbarungen von Astana 2017 eine Art Dreibund mit Rußland und dem Iran. Rußland und Iran unterstützen aber auch Baschar al-Assad. Zu guter Letzt beschworen Wladimir Putin und Erdoğan bei einem Treffen in Sotschi Anfang August die „Wichtigkeit der Bewahrung der politischen Einheit und der territorialen Integrität Syriens“.

Syrische Flüchtlinge spielen 

eine Hauptrolle in der Debatte

Dennoch differieren die Motive und Zielsetzungen der einzelnen Akteure. Der Iran versucht die Macht seines Verbündeten Baschar al-Assad zu stabilisieren. Rußland verfolgt ein ähnliches Ziel, will aber die SDF dazu bewegen, ihre Verbindungen mit den USA zu beenden und eine Versöhnung mit Damaskus zu suchen.

Die Türkei will, wie in den letzten Tagen und Wochen aus Ankara zu hören ist, einen Ausgleich mit Damaskus. Der Preis könnte ein gemeinsames Vorgehen gegen die SDF, Akzeptanz der Rückkehr der syrischen Flüchtlinge und ein Kompromiß mit der von Ankara protegierten syrischen Opposition sein. Syrien seinerseits lehnt den geplanten Angriff ab und fordert den Abzug der türkischen Armee von allen syrischen Territorien. Eine nicht leicht zu entwirrende Konstellation.

Doch plötzlich erinnerte sich Çavuşoğlu an ein „kurzes Gespräch“ mit seinem syrischen Amtskollegen. Unvermittelt sprach Erdoğan davon, daß Putin ihn gebeten habe, mit Baschar al-Assad Kontakt aufzunehmen. Parallel dazu hielt sich Damaskus mit seiner Verurteilung der Türkei zurück. „All dies sind Faktoren, die wahrscheinlich einen Neuanfang signalisieren, bei dem Assad und Erdoğan aus Putins ‘Kelch der Normalisierung’ trinken“, so das Fazit des syrischen Journalisten Ibrahim Hamidi in der arabischen Tageszeitung Asharq Al-Awsat.


Prof. Dr. Ferhad Seyder war Hochschullehrer an den Universitäten Berlin (FU), Potsdam, Erfurt und Amman.