© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 33/22 / 12. August 2022

Historische Deutungen aus einer anderen Zeit
Holger Michaels Geschichte Polens zwischen 1918 und 1939 verharrt politisch und wissenschaftlich in realsozialistischen Gedankenwelten
Stefan Scheil

Über das Polen vor 1939 weiß der Durchschnittsdeutsche recht wenig. Es ist für ihn in der Regel vor allem das Land, das am 1. September 1939 „überfallen“ wurde, wie die Mehrheitsmedien nicht müde werden zu betonen. Wie es dazu kommen konnte und wie vorher die polnische Perspektive ausgesehen hat, das fällt in den Bereich des eher selten vorhandenen Spezialwissens.

Holger Michael möchte das ändern und versucht zu diesem Zweck eine polnische Geschichte „Zwischen den Kriegen“ in den Jahren 1919 bis 1939 zu erzählen. Als Zielgruppe nennt er ausdrücklich die breite Öffentlichkeit, die auch politisch beeinflußt werden soll. Im Vorwort fallen zudem klare Worte gegen die gegenwärtige Ostpolitik Polens, die dem Autor zu rußlandfeindlich ist. Michaels persönliche Qualifikation besteht unter anderem in einem in den 1970er Jahren in Warschau und Breslau absolvierten Studium der Germanistik und Geschichte.   

Der Autor ist also im einst realen Sozialismus der DDR und Polens sozialisiert. Das ist im ganzen Buch zwar nicht penetrant, aber doch stets präsent. Für Holger Michael „befreit“ natürlich die Rote Armee der Sowjetunion im Jahr 1920 auf ihrem Vormarsch Richtung Warschau jene Gebiete, die sie nach erfolgreicher Abwehr des vorausgegangenen polnischen Angriffs auf die UdSSR erreicht. Ähnliche Floskeln tauchen immer wieder auf. Gravierender ist allerdings, daß Michael die realsozialistische Gedankenwelt vor allem im historischen Bereich noch immer für die maßgebende hält. So läßt er eingangs des ersten Abschnitts über das Polen in den neuen Grenzen nach 1919 programmatisch wissen: „Trotz kritischer Distanz erarbeiteten die Historiker der Volksrepublik Polen in zunehmendem Maße ein objektives und ausgewogenes Bild über jene Zeit. Es hat auch heute noch Bestand.“ 

Derart ausgerüstet, verzichtet Michael denn nicht nur auf fast sämtliche jemals im Westen erschienene wissenschaftliche oder sonstige Literatur zum Thema. Auch zeitgenössische Quellen oder die Produkte der polnischen Geschichtswissenschaft seit den 1990er Jahren finden keine Berücksichtigung. Ja, nicht einmal die von der polnischen Regierung initiierte Ausgabe der Dokumente der polnischen Außenpolitik zur Zwischenkriegsära, die „Polski Dokumenty Diplomatyczne“ wird herangezogen.

Das konnte nicht gutgehen und tut es auch nicht. Michael präsentiert letztlich wirklich einen bloßen Aufguß der realsozialistischen Vergangenheitsdeutung der Volksrepublik. Da die polnische Geschichtswissenschaft dieser Ära bei allem Sozialismus ebenfalls eine patriotische Wissenschaft gewesen ist, kommt Polen dabei natürlich auch nicht ganz schlecht weg. Die Warschauer Führung habe in der Zwischenkriegszeit nicht aus „Abenteurern“ bestanden, sondern aus „hochgebildeten, kompetenten“ Menschen, läßt der Autor wissen. „Sie verfolgten eine Außenpolitik, hinter der sie mit ihrer ganzen Person, mit bestem Wissen und Gewissen standen.“ 

Diese Politiker seien letztlich Opfer von Umständen gewesen, die sie selbst nicht beeinflussen konnten. Polen habe aber selbst keine Verträge gebrochen und keinen Anlaß gegeben, angegriffen zu werden. Daß Polen sich mit beinahe allen Nachbarstaaten in der Zwischenkriegszeit im außenpolitischen Krisenstatus bewegte, fällt bei dieser Deutung unter den Tisch. Der Leser wird sogar mit der heute im Putinschen Rußland wieder gerne kolportierten Stalinversion des Jahres 1939 versorgt. Polen sei quasi von den Westmächten gegen Hitler vorgeschickt worden, damit sie selbst in der Hinterhand bleiben konnten, und um Hitler „die letzte Barriere auf dem Weg in die UdSSR wegzuräumen“. Diese Märchengeschichte hält zwar nicht einmal einer noch so oberflächlichen Prüfung stand, da sich in Wahrheit kein Staat mehr als die UdSSR bemüht zeigte, seinerseits sämtliche Barrieren in Richtung Deutschland einzureißen, um hier den finalen Zugriff zu erhalten. Der Beliebtheit dieser These in manchen politischen Kreisen tut dies erkennbar keinen Abbruch.

Warschaus Machtambitionen werden völlig ausgeblendet

Über die offensiven Ziele der polnischen Führung, die während der gesamten Zwischenkriegszeit den Blick auf weitreichende Gebietsgewinne in Deutschland nicht aus den Augen verlor, verliert Michael kein Wort. Über die Warschauer Ambitionen, ein Imperium als eigentliche Vormacht in Ostmitteleuropa zu errichten, ebenfalls nicht. Polens Regierung mußte 1939 von niemandem vorgeschickt werden. Sie griff bewußt in das riskante Spiel ein, nach jahrelanger politischer Vorbereitung und in der Ansicht, alle Trumpfkarten in der eigenen Hand zu haben, wie es Ende März 1939 der Außenminister auf einer Konferenz mit den eigens aus Europas Hauptstädten herbeigerufenen Botschaftern Polens verkündete. Diese übrigens hatten als Angehörige der Polnischen Legion des Ersten Weltkriegs fast alle einschlägige Erfahrungen mit „abenteuerlicher“ Politik.

Des Autors historische Realitätsblindheit betrifft jedoch wie gesehen nicht nur Polen. Auch manche Bemerkungen über die UdSSR sind fast schon erheiternd. Etwa wenn besserwisserisch davon die Rede ist, die Rote Armee hätte aus politischen wie militärischen Gründen 1920 an der von den Westmächten befürworteten polnischen Ostgrenze anhalten sollen, der „Curzon-Linie“. Tatsächlich schmiedete das politische Moskau damals nicht nur Pläne für die Beziehungen zum künftig eroberten Polen, sondern bereits auch zur sozialistischen Volksrepublik Deutschland nach einem erfolgreichen Einzug der Roten Armee in Berlin im Jahr 1920. Lust auf Abenteuer und Revolution gab es in der Zwischenkriegszeit nicht nur in Warschau.   

Sollte der Durchschnittsdeutsche so etwas nun wissen, mag man fragen. Ja, im großen und ganzen schon, sonst muß in den deutschen Medien weiterhin zum 1. September 1939 der Überfall aus heiterem Himmel kommen. Bei Holger Michael erfährt er leider wenig davon. 






Dr. Stefan Scheil ist Historiker und unter anderem Autor des Buches „Fünf plus Zwei – Die europäischen Nationalstaaten, die Weltmächte und die vereinte Entfesselung des Zweiten Weltkrieges“ (Berlin 2001). 

Holger Michael: Zwischen den Kriegen.Polens Außenpolitik 1919–1939. Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2022, gebunden, 416 Seiten, 30 Euro