© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 32/22 / 05. August 2022

Deutschland, Deutschland über alles
Vom Glück des Vaterlandes: Vor hundert Jahren erklärte Reichspräsident Friedrich Ebert das Lied der Deutschen zur Nationalhymne
Eberhard Straub

Das Deutsche Reich, 1871 gegründet, kannte keine deutsche Staatsbürgerschaft, keinen offiziellen Nationalfeiertag und keine Nationalhymne. Das neue Reich nahm Rücksicht auf die Bundesstaaten und deren herkömmlichen Patriotismus. Auch solche Deutsche, die enthusiastisch danach strebten, die vielen deutschen Staaten in einer Nation zusammenzufassen, sprachen vorzugsweise von Einigkeit und nicht von Einheit, also von einer Vielfalt, die nicht vereinheitlicht werden sollte, sondern durch Eintracht das Recht sichert und damit die Freiheit aller im Reich vereinigten Deutschen ermöglichte. In der letzten Strophe des volkstümlichen „Liedes der Deutschen“ wurde in diesem Sinne von dessen Dichter Heinrich August Hoffmann von Fallersleben, einem radikalen Nationalliberalen, Einigkeit, und Recht und Freiheit als des Glückes Unterpfand beschworen.

Dieses Lied erhob Reichspräsident Friedrich Ebert vor hundert Jahren, am 11. August 1922, aus Anlaß des Verfassungstages, zur Nationalhymne. Der Präsident griff auf ein Lied zurück, das aus dem Volke kam und nicht dem Volk verordnet werden mußte. Auf diese Weise verhielt er sich sehr demokratisch. Ein völlig neues „Deutschlandlied“ hätte sich in den aufgeregten Zeiten gar nicht durchsetzen lassen. Außerdem sangen längst auch Sozialdemokraten dieses Lied der Deutschen, um zu bekunden, keine vaterlandslosen Gesellen, sondern eine nationale Kraft zu sein, fest im Volke verankert. 

Der Burschenschafter und Literaturprofessor Hoffmann von Fallersleben hatte im August 1841 sein Lied auf der damals zu England gehörenden Insel Helgoland geschrieben. Wegen politischer Unkorrektheiten, mit denen er den Staat und dessen Institutionen destabilisieren wollte, wie Polizei und Staatsschutz vermuteten, war er aus Preußen ausgewiesen worden. Er stand noch ganz unter den leidenschaftlichen Aufwallungen, die 1840 viele Deutsche ergriffen hatten in der Hoffnung, ihre Kulturnation, die sie mit Stolz erfüllte, in einer Staatsnation zu vollenden. Denn die Franzosen, während einer großen Orientkrise isoliert in Eu-ropa, dachten an Krieg. Sie wollten sich nicht mit ihren historischen Grenzen abfinden, in die sie auf dem Wiener Kongreß 1815 verwiesen worden waren, sondern beanspruchten weiterhin „natürliche Grenzen“, also das vollständige linke Rheinufer. Die aufgebrachten Deutschen, ungeachtet ihrer politischen Unterschiede, waren sich darin einig vom demokratischen Dichter Georg Herwegh bis zum antirevolutionären Prinzen Wilhelm von Preußen, dem späteren König und Kaiser: „Sie sollen ihn nicht haben, den freien, deutschen Rhein“. Der Rhein war für sie alle, geprägt von der Rheinromantik, Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze.  

Es kam nicht zum Krieg. Aber die Aufregung war zum ersten Mal eine wirklich nationale, Stände und Stämme vereinigend, um endlich eine Antwort auf die beunruhigende Frage zu finden: Was ist des Deutschen Vaterland? Es gab viele Patrioten in den deutschen Staaten, die ihre vaterländische Gesinnung aber als Preuße oder Österreicher, Sachse oder Hanseat bekannten. „Österreich über alles, wenn es nur will“ – so lautete der Titel eines bis tief ins 18. Jahrhundert immer wieder aufgelegten Weckrufs, den 1684 der Ökonom Philipp Wilhelm von Hörnigk verfaßt hatte. Die rettende Devise konnte nicht weiter heißen: Österreich, Preußen, Bayern oder Württemberg über alles, sondern Deutschland, das alle Besonderheiten miteinander versöhnt und sie zum gemeinsamen Handeln vereinigt, so daß sie mit vereinten Kräften Anschläge auf ihre Würde, Ehre oder gar ihre Existenz erfolgreich abwehren können. 1922 ging es um die Existenz des besiegten, in sich uneinigen Deutschland, abermals von einem Frankreich bedrängt, das die linksrheinischen Gebiete dauerhaft seiner Kontrolle unterwerfen wollte. 

Der historische Moment legte es Friedrich Ebert nahe, gerade jetzt das Lied der Deutschen zur nationalen Hymne zu erklären. „Deutschland, Deutschland über alles“ sollte in seinem Sinne ein Appell sein, nicht ideologische Rechthaberei und juristische Abstraktionen für wichtiger zu halten als die lebendige Nation, die in ihrer gesamten Verfassung geschwächt war. Fällt sie auseinander, dann erwecken sie auch noch so geistreiche und temperamentvolle Theorien nicht zu neuem Leben. Deutschland ist keine Professorenidee, sondern eine Wirklichkeit mit einer langen Geschichte, widerspruchsvoll und eigenartig, wie alles, was lebt und sich entwickelt im Zusammenhang mit anderen und deren Eigenwilligkeiten. „Deutschland über alles“ – dieser Ruf richtete sich mahnend gegen rheinische Separatisten, bayerische Partikularisten und aufmunternd an die Deutsch-Österreicher, denen die Sieger es untersagten, ein Teil der gemeinsamen deutschen Republik zu werden. Das ganze Deutschland sollte es sein! Aber nach dem Willen der Sieger sollte es kein „ganzes Deutschland“ in welcher Form auch immer geben. 

In der ersten Strophe der Nationalhymne spricht Hoffmann von Fallersleben von dem historischen Raum, in dem Deutsche damals und bis Ende 1918 lebten: Von der Maas bis an die Memel / Von der Etsch bis an den Belt. Diese Formel konnte 1841 höchstens nationalistische Franzosen beunruhigen. 1922 durften sich die Siegermächte insgesamt herausgefordert fühlen, weil sie diesen Raum durcheinandergebracht hatten und sich vehement gegen eine deutsche Wiedervereinigung mit Österreich wehrten.

Die Verse Hoffmann von Fallerslebens paßten sich der Melodie Joseph Haydns an, mit der er 1797 in der Kaiserhymne dem „Gott erhalte, Franz den Kaiser“ und den weiteren Worten Lorenz Leopold Haschkas einen feierlichen Ausdruck verlieh. Die Kaiserhymne galt dem römisch-deutschen Kaiser Franz II., der sich im Krieg gegen das revolutionäre Frankreich befand. Die „Marseillaise“ der Franzosen, ein leidenschaftliches Bekenntnis zum Krieg, den die Republik Kaiser und Reich am 20. April 1792 erklärte, ist ein dramatischer Kampfgesang gegen den absoluten Feind, gegen die grausamen, unmenschlichen Krieger jenseits des Rheins, wild wie Tiger und ohne Mitleid, Horden von Sklaven, die blutrünstigen Despoten gehorchen und nur einen Wunsch haben, Franzosen zu erwürgen und deren Frauen zu schänden. 

Die Schreckensherrschaft der radikalen Revolutionäre 1793/ 94 veranschaulichte, wohin ein von allen guten Geistern verlassenes Volk getrieben werden kann, welches nichts von der Freiheit versteht und in rasender Wut das Chaos entfesselt. Wie ganz anders nimmt sich dagegen die Herrschaft des Kaisers aus, den Gott schützen möge. „Laß in seinem Rate sitzen / Weisheit, Klugheit, Redlichkeit! / Und mit Seiner Hoheit Blitzen / Schalten nur Gerechtigkeit!“

Unter diesem Regiment des Rechtes verliert die Bosheit ihre Macht und seine Völker, eins durch Bruderbande, „ragen allen andern vor“. Die Kaiserhymne entwarf das Bild des Friedens, den Kaiser und Reich erhalten sollen, der jedoch von arglistigen Schelm- und Bubenstreichen bedroht ist, die Erzherzog Karl, der Marschall des Kaisers, abwehrt. Er wurde zum nationalen Helden wie früher Prinz Eugen der edle Ritter. Noch bestand das Reich, doch seine Grenzen hielten den französischen Interventionen nicht stand, und es wurde 1806 aufgelöst. Auf dem Wiener Kongreß wurden 1815 die auseinandergebrochenen Teile des Reiches als Deutscher Bund neu zusammengefaßt. An die Kaiserhymne, die auch ein Lied der Deutschen und ihres Reiches war, lehnte sich Hoffmann von Fallersleben an, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbindend. Der Dichter dachte und fühlte historisch; er wandte sich mit seinem Gedicht und dem Rückgriff auf Haydns Melodie an den historischen Sinn der Deutschen, den die Katastrophe des Reiches geschärft hatte. 

Die umfassende Niederlage von 1945 bewirkte dazu im Gegensatz eine Geschichtsverdrossenheit, trotz der beflissenen Vergangenheitsbewältigung und Zerknirschungsindustrie. Vom Reich, von Deutschland, von der Nation, ja selbst vom deutschen Volk gab es nur noch Trümmer. Schlimmer als im Dreißigjährigen Krieg, als der Barockdichter Andreas Gryphius erschüttert über die Tränen des Vaterlands nachsann: „Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret!“

Es fehlte der Mut dazu, Deutschland als Idee und Erbe festzuhalten. Es wäre angemessen gewesen, gerade unter dem Eindruck des Untergangs, eine historisch vertiefte Vorstellung vom geistigen Raum der Nation, die auch eine Kulturnation war, wachzuhalten. Man hielt sich an Rilke: Überstehen ist alles! Das Land stürzte sich in die Steigerung des Bruttosozialproduktes und produzierte ein ökonomisches Wunder nach dem anderen. Die Bundesrepublik war ein reiner Zweckverband, der Gewinnbeteiligung jedem verhieß, der in die Hände spuckte. Auf irgendwelche Ideen, gar deutsche, sollte keiner kommen. Nie wieder Deutschland, so lautete die leise oder zuweilen auch deutlich ausgesprochene Devise, ergänzt von dem Auftrag, emsig an der Verwestlichung zu arbeiten und der Europäisierung des Lebensgefühls. 

An eine Nationalhymne dachten die Organisatoren der Bundesrepublik erst, als sie bei Auslandsreisen mit Ersatzhymnen wie dem Karnevalsschlager „Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien“ begrüßt wurden. Das war ihnen etwas peinlich. Der Versuch des Bundespräsidenten Theodor Heuss, 1950 ein neues Lied für Repräsentationszwecke den Deutschen zu verordnen, scheiterte kläglich. Konrad Adenauer besann sich auf das alte Deutschlandlied, auf das die Deutschen nicht verzichten wollten, empfahl aber, nur die letzte Strophe zu singen. Dabei ist es geblieben. Die dritte Strophe, aus ihrem Zusammenhang gerissen, wirkt wie ein Besinnungsaufsatz, bestimmt für den Unterricht in Gemeinschaftskunde. Dem Glück des deutschen Vaterlands, von dem am Schluß unerwartet die Rede ist, fehlt unter solchen Voraussetzungen das breite Fundament. Einigkeit und Recht und Freiheit kann des Glückes Unterpfand für alle Menschen sein. Ganz abgesehen davon, daß „der Westen“ unser wahres Vaterland sein soll. 

Sehr selten wird der Text gesungen, weil die Bundesrepublik sich nur ungern auf die Nation und das Vaterland besinnt. Die Hymne Haydns ohne Worte erinnert an ein sehr fernes, ehemaliges Deutschland, geisterfüllt, reich an Schönheit und Gedanken. Die Gedanken sind frei, wie Patrioten erwarteten, und so mögen sie beim Hören dieser Melodie in die weiten Regionen der Geschichte ausschweifen, in der es ein ehrwürdiges, Geist, Phantasie und Gemüt beschäftigendes Deutschland gab und nicht nur einen Industriestandort.






Dr. phil. Eberhard Straub, Jahrgang 1940, habilitierter Historiker, Publizist und Buchautor, war Feuilletonredakteur der FAZ und Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin.