© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 30-31/22 / 22. Juli 2022

Sauerteig unserer Moderne
Der Neuzeithistoriker Heinz Schilling zeichnet die wichtige Rolle des Christentums für die Entstehung des neuzeitlichen Europa nach
Felix Dirsch

Heinz Schilling zählt schon seit Jahrzehnten zu den führenden deutschen Neuzeithistorikern. Er wurde in den 1980er Jahren besonders durch seine Beiträge in der Reihe „Siedlers Deutsche Geschichte“ bekannt. Zuletzt machten seine Schriften über Luther, über das welthistorische Jahr 1517 und über Kaiser Karl V. von sich reden. In seinem neuesten Buch arbeitet der Berliner Emeritus die Bedeutung des Christentums für das neuzeitliche Europa heraus. Dabei vergißt er auch die mittelalterlichen und antiken Grundlagen nicht. Schwerpunkte der Darstellung sind Renaissance und Reformation, das Zeitalter des Konfessionalismus als „Vorsattelzeit der Moderne“, christliche Erfahrungsfelder in der Frühen Neuzeit, aber auch ein fundierter Ausblick über die Christenheit im modernen Europa.

Zunächst mag der Ansatz Schillings überraschen. Seit der Aufklärung wird von ihren Protagonisten häufig erfolgreich das Gerücht verbreitet, das Christentum bilde hauptsächlich retardierende Kräfte aus. Das mag nicht falsch sein, wenn man den Fortschritt primär als technischen und ökonomischen betrachtet, wie er sich vornehmlich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchsetzt. Es darf aber nicht vergessen werden, daß der von Max Weber (neben den bahnbrechenden Arbeiten Otto Hintzes) hochgelobte okzidentale Rationalismus auf älteren Impulsen beruht. Zu ihnen zählt Weber auch christliche Einflüsse, etwa die scholastische Philosophie und die mittelalterliche Kurienbürokratie. Die traditionellen Kulturträger sind an der Überlegenheit Europas, die um 1900 noch offenkundig erschien, Weber zufolge stark beteiligt. Neuere Abhandlungen, etwa von dem Oxforder Ideenhistoriker Larry Siedentop und dem Sozialethiker Martin Rhonheimer, unterstreichen diese Erkenntnisse.

Auf diesen und vielen weiteren Studien kann Schilling aufbauen. Zum christlich geprägten „Sauerteig in der Welt“ gehört vieles, das nach und nach innerweltliche Wirkungen entfaltete: die ambivalente Dualität von geistlicher und weltlicher Gewalt; der universalistische Grundzug; die Adaption in die Völkerwelt des Abendlandes; die Gleichheit der Menschen vor Gott, die erst später zur Egalität vor dem Gesetz mutierte; die Zentrierung auf Ehe und (Klein-)Familie statt auf die Sippe; die Durchdringung der Welt mittels Bildung und Wissenschaftlichkeit; eine stärkere Differenzierung von Welt und Glaube, die ein wichtiges Einfallstor für den Autonomiegedanken darstellte.

Die Französische Revolution 1789 bedeutete eine Zäsur

Schilling belegt diese zentralen Gedanken anhand einer Fülle von Beispielen. Der Nukleus des Pluralismus – so eine einflußreiche wissenschaftliche Traditionslinie von Eugen Rosenstock-Huessy bis Heinrich August Winkler, die Schilling jedoch kritisch betrachtet – liegt im Dualismus von geistlicher und weltlicher Gewalt. Er setzt sich über die Stationen Investiturstreit, Reformationen und Französische Revolution mit veränderten Akzenten bis in die unmittelbare Gegenwart fort. Bereits der reformatorische Aufbruch bringt zahllose neue geistliche wie weltliche Kräfte hervor, die jedoch noch im Horizont des Christlichen liegen. 1789 bedeutet auch in diesem Bereich eine Zäsur. Der neuzeitliche Konfessionalismus bringt partiell eine neue Dynamik des Zusammenlebens mit sich. Ein Beispiel ist die (oft erzwungene) Migration von Glaubensflüchtlingen. 

Interessant sind weiter die neuen Gemengelagen von Staat und Kirche, die in den unterschiedlichen Territorien gar nicht so verschieden sind, wie man angesichts der Kirchenspaltungen meinen könnte. Für die „Sozialdisziplinierung“ im modernen Staat – seit Gerhard Oestreichs Forschungen ein Schlüsselbegriff der Geschichtsschreibung – waren überwiegend die Religionsgemeinschaften zuständig, die nicht nur auf diese Weise in staatliches Handeln hineinwirkten. Als besonders streng gilt die calvinistische Kirchenzucht. Welch unterschiedliche Sozialformen das Christentum ausbildete – von der Förderung des Heiligen Kriegs über Varianten der Friedensethik bis hin zur Stützung von politischen Regimen, aber ebenso fundamentalistisch-weltfeindlichen Strömungen – zeigen frühneuzeitliche Erfahrungsfelder des christlichen Glaubens. 

Wenig vom Verständnis historischer Dynamik geprägt ist freilich Schillings Vergleich von Luther und Papst Pius IX. (1846 bis 1878). Letzteren mag man wegen seiner bekannten Intransigenz an den Pranger stellen. Er steht jedoch ebensowenig für bloß reaktionäres Gebaren wie Luther für ausschließliches Fortschrittsdenken. Der letztlich vergebliche Verteidigungskampf der Kurie hängt maßgeblich mit dem Verlust wesentlicher kirchlicher Bastionen infolge von Aufklärung und Französischer Revolution zusammen. Im geschichtlichen Kontinuum wird das trotzige Verhalten des „unfehlbaren“ Pius IX. mitsamt des Dogmas von der unbefleckten Empfängnis Mariens vom Dezember 1854 durchaus verständlich. Die Selbstbehauptung der Katholiken im späten 19. Jahrhundert, vornehmlich im gelegentlich als pseudokonstitutionell betrachteten deutschen Kaiserreich, leistete der rechtsstaatlichen Freiheit größere Dienste als das Agieren vieler Nationalliberaler. Die Wirkungsgeschichte der Kirche ist auch in diesem Kontext verschlungen. Schilling zieht die Linien bis in die unmittelbare Gegenwart aus. Abschließend fragt er nach dem Ort des Christentums in der modernen Welt. 

Der produktive Wissenschaftler, der kürzlich ins neunte Lebensjahrzehnt eingetreten ist, hat ein Werk vorgelegt, das in die Fußstapfen von älteren Gelehrten wie Weber und Hintze tritt und deren Ergebnisse auf den Stand der heutigen Forschung bringt. Besseres läßt sich über einen Vertreter seiner Zunft kaum sagen.

Heinz Schilling: Das Christentum und die Entstehung des modernen Europa. Aufbruch in die Welt von heute. Herder-Verlag, Freiburg  2022, gebunden, 472 Seiten, 28 Euro