© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/22 / 15. Juli 2022

Der große Vorsitzende und die kleine Diebin
Kino: Zhang Yimous Film „Eine Sekunde“ veranschaulicht den Irrsinn der kommunistischen Kulturrevolution – ein Meisterwerk
Dietmar Mehrens

Vater ist dir nah, Mutter ist dir nah, aber niemand ist dir so nah wie der Vorsitzende Mao.“ So lautet eine der berühmten Parolen aus der Zeit der Großen Proletarischen Kulturrevolution, eines nach wie vor brisanten Themas im von der Kommunistischen Partei Chinas beherrschten Reich der Mitte. Mao Tse-tung, als der „große Vorsitzende“ bereits vor der Kulturrevolution verantwortlich für eine Reihe desaströser Fehlentscheidungen mit Millionen Todesopfern, ist und bleibt eine Ikone, ein säkulares Heiligenbild. Der chinesische Filmemacher Zhang Yimou – manche bezeichnen ihn als den Steven Spielberg der Volksrepublik – hat sich nach der Romanverfilmung „Leben!“ (1994) nun erneut des heiklen Themas angenommen und laviert sich äußerst geschickt an den vielen Fallstricken vorbei, die für einen Filmemacher naturgemäß ausliegen, wenn er sich mit der Spätphase der Mao-Ära auseinandersetzen möchte.

Zhang hat eine kurvenreiche Karriere hinter sich. In der Zeit der Öffnung unter dem Mao-Erben Deng Xiaoping wagte er einige sehr kritische Filme, die auf den Filmfestivals in Cannes, Venedig und Berlin für Furore sorgten, Löwen und Bären abräumten. „Rotes Kornfeld“ (1987), die Verfilmung des gleichnamigen Romans von Nobelpreisträger Mo Yan, „Judou“ (1990), „Rote Laterne“ (1991) und „Leben!“ nach dem gleichnamigen Roman von Yu Hua sind allesamt Filme, die im Westen zum Teil frenetischer gefeiert wurden als in Zhangs Heimatland. Es folgte eine Phase, in der der Regisseur eine Reihe kommerzieller und politisch unverfänglicher Filme vorlegte, darunter die historischen Kampfkunst-Dramen „Hero“ (2002) und „Der Fluch der goldenen Blume“ (2006). Bisheriger Karrierehöhepunkt war ohne Frage Zhangs Berufung zur Inszenierung der olympischen Eröffnungs- und Abschlußzeremonie in Peking 2008.

Wie man Staatspropaganda und deren Phrasen entlarven kann

„Eine Sekunde“ ist, ähnlich wie Giuseppe Tornatores „Cinema Paradiso“ (1988), wie Martin Scorseses „Hugo Cabret“ (2011), der Film eines Filmemachers über die Faszination des Mediums Film in allen seinen Facetten bis hin zum ertastbaren Erleben des Zelluloidstreifens. Doch Zhang geht es um mehr: Er möchte auch den Mißbrauch der siebten Kunst für billige und gleichwohl immens wirkungsvolle Propaganda bloßstellen. Und das gelingt ihm meisterhaft. 

Im Stil einer Burleske läßt der 1950 in Xian Geborene seine wunderbar subtile Inszenierung beginnen. Die Handlung ist angesiedelt im wüsten Westen des Riesenreichs; gedreht wurde in der Nähe der alten Oasenstadt Dunhuang (Provinz Gansu). Alles dreht sich um eine Filmrolle, eigentlich um zwei. Die erste enthält den Propagandastreifen „Heldenhafte Söhne und Töchter“ (1964) nach dem Roman „Wiedervereinigung“ (1961) von Ba Jin, der andere Wochenschau Nummer 22. Die Rollen müssen per Mopedkurier in die nächste Ortschaft gebracht werden. Auf dem Weg dorthin stiehlt das Waisenmädchen Liu (Liu Haocun) eine von ihnen.

Doch auf die Rolle hat es auch ein entflohener Sträfling (Zhang Yi) abgesehen. Es kommt, vor allem weil die kleine Liu nicht auf den Mund gefallen ist, zu einem komödiantischen Hin und Her zwischen den beiden Rivalen: Mehrfach wechselt das obskure Objekt der Begierde den Besitzer. Unterdessen harren am Zielort der Filmvorführer der Partei, genannt Mr. Movie (Fan Wei), und eine nach Unterhaltung dürstende Landbevölkerung ungeduldig der beiden Rollen. Als sie endlich eintreffen, ist das aber nur der Beginn weiterer dramatischer Verwicklungen.

Endlich erfährt der Zuschauer auch, warum das Waisenkind und der Entflohene so versessen auf dieselbe Filmrolle sind. Tragische Schicksale enthüllen sich: Liu möchte ihrem kleinen Bruder helfen, und auch ihr Widersacher hat familiäre Gründe für seine Filmmanie: In einem der Streifen wirkt nämlich seine Tochter mit. Die hat der wegen eines Angriffs auf Maos Rote Garden zu Zwangsarbeit Verurteilte seit sechs Jahren nicht gesehen! 

Die zerstörerische Wirkung der sozialistischen Ummodelungspolitik auf die traditionelle Familie – hierzulande aktuell versehen mit dem Framing-Siegel „Kinderrechte“ – ist also ein dezent verpacktes Subthema von „Eine Sekunde“. Ein zweites ist die Verzweckung des Mediums Film für Staatspropaganda. Wie man deren Phrasen entlarven kann, ohne sie direkt in Frage zu stellen, dazu bietet die Tragikomödie famosen Anschauungsunterricht. Den Abschnitt, in dem die Tochter des Flüchtigen ihren großen Auftritt hat, will er nämlich wieder und wieder sehen. Er zwingt Mr. Movie, den fraglichen Passus herauszuschneiden und in Endlosschleife auf die Leinwand zu projizieren. Es ist seine ganz persönliche Privatvorstellung. Nebenwirkung: Der Wochenschaukommentar läuft ebenfalls in Dauerschleife.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Regisseur es förmlich auskostet, der Phrasendreschmaschine dabei zuzusehen, wie sie sich in der Wiederholung ihrer hohlen Parolen totnudelt: „Die ganze Belegschaft des Getreidelagers Oststraße trägt den Geist des Vorsitzenden Mao immer im Herzen. Angeleitet durch die Devise ‘Dem Volke dienen’ folgen sie der fortgeschrittenen Arbeit des 19. Getreidelagers und setzen den Geist von ‘Dem Volke dienen’ ganz praktisch in ihrer Arbeit um. Sie fürchten keine Härten, sie fürchten keinen Tod. Parteimitglieder übernehmen die Führungsrolle bei der großartigen Erziehung der jungen Studenten, die zu Schulungszwecken mit dabei sind.“ Ganz geheuer war das der chinesischen Zensurbehörde offenbar nicht. Wenige Tage vor seiner Präsentation bei der Berlinale 2019 wurde „Eine Sekunde“ zurückgezogen.

Warum „Eine Sekunde“? Der Titel enthält so etwas wie die Pointe des ganzen Films – und die wird hier natürlich nicht vorweggenommen. Selbst ansehen lohnt sich.

Kinostart ist am 14. Juli 2022

Foto: Waisenmädchen Liu (Liu Haocun) und Sträfling (Zhang Yi): Tragische Schicksale