© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 29/22 / 15. Juli 2022

Die Protokolle des Versagens
Ein Jahr Flutkatastrophe: Die politische Verantwortung muß noch geklärt werden
Peter Möller

Die verheerende Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen, bei der im Juli vergangenen Jahres mindestens 186 Menschen ums Leben gekommen sind, ist angesichts von Dauer-Pandemie, Ukraine-Krieg und der drohenden wirtschaftlichen und energiepolitischen Verwerfungen aus der öffentlichen Wahrnehmung bereits wieder weitgehend verschwunden. Anders sieht es natürlich für die Betroffenen in der Region aus: Angesichts der Zerstörungen, die die Wassermassen insbesondere im Ahrtal hinterlassen haben, müssen sich viele mühsam eine neue Existenz aufbauen und versuchen, angesichts der erlittenen Verluste wieder in ein normales Leben zurückzufinden (siehe Seite 7). Der Wiederaufbau in der Region ist noch lange nicht abgeschlossen, noch immer wohnen Betroffene in Behelfsunterkünften – auch weil die zugesagten 30 Milliarden Euro Hilfsgelder nicht in allen Fällen ohne Hindernisse die Empfänger erreichen.

Auch auf politischer Ebene ist die Aufarbeitung der Katastrophe noch nicht abgeschlossen. Nach der Flut setzten die Landtage in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen Untersuchungsausschüsse ein, um zu klären, wer politisch die Verantwortung dafür trägt, daß der Katastrophenschutz in den verhängnisvollen Tagen im Juli 2021 versagt hat (JF 13/22). Über allem steht dabei die Frage: Wie kann verhindert werden, daß sich so eine zerstörerische Flut noch einmal wiederholt?

Dabei zeigten sich vor allem in Rheinland-Pfalz eklatante Mängel im Krisenmanagement der Landesregierung. Die Aussagen von Ministerpräsidentin Marie-Luise Dreyer und Innenminister Roger Lewentz (beide SPD) hinterließen im Ausschuß den Eindruck, daß die politisch Verantwortlichen am Tag der Flut keinen Überblick darüber hatten, was in den von den Wassermassen heimgesuchten Gebieten entlang der Ahr überhaupt geschah. Beobachtern drängte sich der Eindruck auf, die Landesregierung sei in dieser dramatischen Situation im Blindflug unterwegs gewesen. Dreyer habe nach eigenen Angaben in der Flutnacht darauf vertraut, daß der Katastrophenschutz vor Ort funktioniere – ein verhängnisvoller Fehler wie sich im nachhinein herausstellte. Auch Innenminister Lewentz habe die Lage völlig falsch eingeschätzt, meint etwa das Untersuchungsausschußmitglied Michael Frisch (AfD): „Die fatale Folge davon war, daß er keine Notwendigkeit sah, die Katastrophenschützer im Kreis über das übliche Maß hinaus zu unterstützen.“ Denn dort waren sowohl der zuständige Landrat Jürgen Pföhler (CDU), gegen den wegen des Anfangsverdacht der fahrlässigen Tötung und fahrlässigen Körperverletzung durch Unterlassen ermittelt wird, als auch die örtliche Einsatzleitung heillos überfordert und ohne Überblick. 

Größter Einsatz des Technischen Hilfswerks

Angesichts dieser Mängel im Katastrophenschutz geht der Untersuchungsausschuß in Mainz der Frage nach, ob die Landesregierung die Einsatzleitung in der Flutnacht zum 15. Juli 2021 hätte übernehmen müssen? Eine Frage, die unter Juristen umstritten ist und die zu einer rechtlichen Klarstellung der entsprechenden Landesgesetze führen könnte. Die Arbeit der Parlamentarier förderte weitere Versäumnisse zutage: So gab es in mehreren betroffenen Landkreisen entlang der Ahr keinen für ein Hochwasser ausgelegten Alarm- und Einsatzplan, obwohl die Landkreise und Gemeinden dazu gesetzlich verpflichtet sind.

Für ein ehemaliges Mitglied der Landesregierung hatte das Verhalten während der Flut bereits Konsequenzen. Die damalige Umweltministerin und Vizeministerpräsidentin in Rheinland-Pfalz, Anne Spiegel (Grüne), mußte Ende April dieses Jahres aufgrund ihres Verhaltens während der Flutkatastrophe als Bundesfamilienministerin zurücktreten, da sie unter anderem trotz der dramatischen Auswirkungen ihren Urlaub nicht abgebrochen hatte.

Auch in Nordrhein-Westfalen versucht der Landtag mit Hilfe eines Untersuchungsausschusses die politischen Verantwortlichkeiten zu klären. Nach der Landtagswahl am 15. Mai, durch die die Arbeit des ersten Gremiums beendet werden mußte, will das Parlament nun einen neuen Untersuchungsausschuß einsetzen. Er soll weiter der Frage nachgehen, von wem welche Fehler gemacht worden sind, die dazu führten, daß in Nordrhein-Westfalen durch die Flut 49 Menschen ums Leben gekommen sind. Bislang wurden dazu bereits zwei Millionen Seiten an Unterlagen ausgewertet und mehr als 50 Zeugen befragt. Auch hier mußte die damalige Umweltministerin Ursula Heinen-Esser (CDU) zurücktreten, nachdem bekanntgeworden war, daß sie sich nach der Flutkatastrophe länger im Urlaub aufgehalten hatte, als sie im Ausschuß angab. Auch die weiteren Erkenntnisse sind ähnlich ernüchternd wie in Rheinland-Pfalz. Durch ein besseres Krisenmanagement, mehr Hochwasserschutz und ein funktionierendes Warnsystem hätten Menschenleben gerettet werden können. Nach Aussage von Experten sei bereits mehrere Tage vor der Flut vorhersehbar gewesen, wie dramatisch die Situation werden könnte. „Es mußte in dieser Situation niemand ums Leben kommen. Wenn alle das tun, was hätte getan werden müssen“, sagte der prominente Wetterexperte Jörg Kachelmann im Ausschuß. Ähnlich wie in Rheinland-Pfalz wird auch in Nordrhein-Westfalen bereits an gesetzlichen Regelungen gearbeitet, um eine ähnliche Katastrophe künftig möglichst zu verhindern.

Doch nicht immer stehen die Opfer im Fokus: Welche Dimensionen die Flut auch für die Hilfskräfte hatte, wurde in der vergangenen Woche am Beispiel des Technischen Hilfswerks (THW) deutlich: Die Starkregen-Katastrophe im Sommer 2021 hatte nach Angaben des zuständigen Bundesinnenministeriums den größten Einsatz in der Geschichte des THW zur Folge. Die Helfer leisteten beim unmittelbaren Einsatz im Juli 2021 und den darauffolgenden Aufräumarbeiten 2,6 Millionen Arbeitsstunden, geht aus dem THW-Jahresbericht hervor. Über Wochen und Monate hinweg waren rund 17.000 der blauuniformierten Einsatzkräfte aus allen 668 deutschen Ortsverbänden dabei, Trümmer von den Straßen zu räumen, Keller leer zu pumpen oder neue Brücken zu errichten.

Foto: Ministerpräsidentin Dreyer im Untersuchungsausschuß: Eklatante Mängel beim Krisenmanagement