© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/22 / 08. Juli 2022

Der Flaneur
Von Ende bis Anfang
René Langner

Es ist soweit, Erna möchte sich verabschieden“, teilt mein Vater mir mit. Ich mache mich auf den Weg und sitze etwas später am Bett einer schwer kranken und vom Leben gezeichneten alten Dame. Um ehrlich zu sein, war es eher das Drängen meines Vaters als mein eigener Wunsch, unsere ehemalige Nachbarin noch einmal zu besuchen. Natürlich, in meiner Kindheit war mir Erna sehr vertraut. Unzählige Male hat sie auf mich aufgepaßt. Stets war sie liebe- und verständnisvoll.

Dennoch, irgend etwas sträubte sich in mir. Zu groß war wohl die Furcht, mich diesem Thema zu stellen. Gleichwohl befinde ich mich nun zusammen mit ein paar anderen Gästen in Ernas kleiner Wohnung. Ihre beste Freundin reicht Kekse und Kaffee. Zunächst fühle ich mich unwohl. Als ich jedoch merke, wie selbstverständlich das nahende Ende ausgestaltet und geplant wird, werde auch ich gelassener.

„Wenn ich mein Leben von vorn beginnen könnte, hätte ich mehr echte Probleme, aber weniger eingebildete.“ 

Doch nicht nur Formalitäten sind es, die besprochen werden, sondern auch unzählige heitere Geschichten. Und so wird viel erzählt, gewitzelt und gelacht, bevor Erna ihr Resümee zu ziehen scheint: „Wenn ich mein Leben von vorn beginnen könnte, würde ich meinen Weg entspannter und unbekümmerter beschreiten. Ich würde weniger Dinge ernst nehmen. Dafür Chancen ergreifen, öfter reisen, Berge besteigen und Flüsse durchschwimmen. Wohl hätte ich mehr echte Probleme, dafür aber weniger eingebildete. Sicher, es gab auch Augenblicke, die zählten. Wenn ich neu anfangen könnte, hätte ich gern mehr davon. Jeden Tag bewußt erleben, statt immer nur zu planen. Stünde ich noch einmal vor der Wahl, so wäre mein Gepäck nicht nur etwas leichter, sondern ich würde aus einem ‘Irgendwann’ viel häufiger ein ‘Jetzt’ machen, bevor daraus ein ‘Niemals’ wird.“ Tränen laufen über meine Wangen. Erna lächelt und schaut zufrieden in die Runde.

Eins zumindest wird mir klar: Viel zu oft führen wir ein Leben, welches man von uns erwartet, anstatt eines, das wir wirklich wollen. Als ich mich verabschiede, flüstert Erna in mein Ohr: „Du wirst das Richtige tun.“ Genau das ist es, was ich vorhabe.