© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 28/22 / 08. Juli 2022

Ein Alptraum für die Industrie
Prognos-Studie skizziert die Folgen eines Erdgaslieferstopps für die deutsche Wirtschaft
Jörg Fischer

Robert Habeck verlangte im Spiegel, der „Gasverbrauch muß runter, wo es nur geht“. Er habe seine Duschzeit „noch mal deutlich verkürzt“, obwohl er noch nie in seinem Leben „fünf Minuten lang geduscht“ habe. Ansonsten halte er sich an das, „was mein Ministerium empfiehlt“. Und die von der Agentur „Scholz & Friends“ realisierte Sparkampagne „80 Millionen gemeinsam für den Energiewechsel“ propagiert beispielsweise „Schatten statt Klimaanlage“ und „Tür zu!“ oder für den Winter „bewegliche Dichtprofile“ und „runter mit der Temperatur abends im Wohnzimmer“. Doch neu ist das nicht.

Der Schwabe Thomas Bareiß, Wirtschaftsstaatssekretär von Peter Altmaier, empfahl schon am 10. Februar 2021 zur Finanzierung der CO2-Bepreisung, „die Temperatur in der Wohnung um ein Grad zu senken. Das bewirke „eine CO2-Ersparnis von acht Prozent, und es entstehen weniger Kosten für die Energieversorgung“, so der CDU-Politiker. Seit ein Grüner das Ressort führt, spart „ein Grad weniger“ nur „bis zu sechs Prozent Energie“. Der rumänische KP-Diktator Nicolae Ceaușescu dekretierte schon vor 35 Jahren winterliche Raumtemperaturen von unter zwölf Grad (JF 11/22).

Störungen in den verflochtenen Produktions- und Lieferketten

Bei der deutschen Industrie geht es nicht um kalte Wohnstuben, sondern die steuert auf eine Katastrophe zu, sollten die Gaslieferungen wegen „Putins Rache“ oder EU-sanktionsbedingt ganz ausbleiben (JF 27/22). Zwar ist der Anteil russischen Gases seit Kriegsausbruch von über 50 Prozent stark zurück- und der Norwegens hochgegangen. Aber bei einem plötzlichen Gaslieferstopp würden sich die negativen Effekte allein im zweiten Halbjahr 2022 auf 12,7 Prozent der deutschen Wirtschaftsleistung belaufen – das wäre ein Rückgang des Produktionswerts von 193 Milliarden Euro. Dies würde insgesamt 5,6 Millionen Arbeitsplätze gefährden. Das rechnet eine aktuelle, aber dennoch ungegenderte Studie der Prognos AG im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (VBW) vor.

Die prognostizierte Verlustsumme – sie entspricht 39 Prozent des Bundeshaushalts 2022 – ist höher als bei anderen Instituten. Doch dabei sind nicht nur die direkten Wertschöpfungsverluste von 49 Milliarden Euro bei einer Lieferunterbrechung von Erdgas erfaßt – etwa ein Glaswerk steht still. Auch vorgelagerte Verluste (49 Milliarden Euro; Rohstofflieferanten) und vor allem nachgelagerte Wertschöpfungsverluste (89 Milliarden Euro; Brauereien, Winzer, Obstverarbeiter, Handel, Restaurants) werden in dem Prognos-Szenario berechnet. „Die Störungen in den intensiv verflochtenen Produktions- und Lieferketten hätten also branchenübergreifend etwa die dreifache Auswirkung im Vergleich zu den direkten Folgen“, warnt VBW-Hauptgeschäftsführer Bertram Brossardt.

„Besonders betroffen sind Branchen wie die Glasindustrie oder die Stahlverarbeitung, dort müssen wir davon ausgehen, daß die Wertschöpfung um fast 50 Prozent zurückgeht“, erklärte Brossardt, der von 1988 bis 2005 für die Bayrische Staatsregierung arbeitete. „Ähnliches gilt für die Chemie-, Keramik-, Nahrungsmittel- und Textilbranche sowie das Druckereiwesen. Hier liegen die Wertschöpfungsverluste bei über 30 Prozent.“ Prognos-Chefvolkswirt Michael Böhmer ahnte, daß seine dramatischen Zahlen in Politik und Medien Widerspruch auslösen würden, weil sie „dem Kreml gefallen könnten“. Doch „wir halten unsere Berechnungen für realistisch“, betont der Münchner Ökonom in einer ergänzenden dreiseitigen Rechtfertigung (FAQ zur Studie „Gasabhängigkeit der deutschen Industrie“).

Die Differenzen zu den optimistischeren Berechnungen kämen daher, daß Prognos auch die technischen Details beachtet habe: Man habe die Gasverbraucher auf der Ebene einzelner Produktionsprozesse, also der Erzeugung von Grundstoffen oder der Glaserzeugung analysiert. „Dabei wird auch zwischen der stofflichen Nutzung von Gas (zum Beispiel zur Herstellung von Ammoniak) und der Nutzung für Prozeßwärme zur Befeuerung von Anlagen unterschieden“, so Böhmer. „Die Wirtschaftsverflechtungen sind mit einer Input-Output-Matrix berechnet, damit werden auch vor- und nachgelagerte Effekte eines Produktionsstopps systematisch erfaßt und transparent gemacht.“

Man habe auch kein Extremszenario zugrundegelegt: Am 17. Juni seien die russischen Gaslieferungen deutlich gekürzt worden. Ab 11. Juli steht eine planmäßige Instandhaltung der Nord-Stream-1-Pipeline an. „Ob Rußland nach der Wartung zu einer Lieferung im bisherigen Umfang zurückkehrt, ist unklar“, meinte Böhmer. Selbst Sparreaktionen (Haushalte und Gewerbe reduzieren die Raumtemperatur um ein bis zwei Grad; Stopp von Erdgas-Bussen und -Pkws; öffentliche Strom- und Wärmeversorger nutzen andere Energieträger) seien bei Prognos einberechnet worden. Nur 30 Prozent des Erdgases verbrauchen die Privathaushalte.

Die hohe Erdgasabhängigkeit der Industrie ist nicht allein der sakrosankten Energiewende oder den „Putin-Verstehern“ Gerhard Schröder und Angela Merkel anzulasten, sondern diese hat auch praktisch-technische und Umweltgründe. Bis in die siebziger Jahre waren fast ausschließlich Kohle und Erdöl bzw. Veredlungsprodukte daraus (Koks, Industrie- und Stadtgas) für Strom, Prozeß- und Heizwärme sowie als Grundstoffe im Einsatz. Unter Willy Brandt wurde zunächst aus Umweltgründen auf sauberes Erdgas und Atomkraft gesetzt, denn „der Himmel über dem Ruhrgebiet muß wieder blau werden“, hatte der damalige SPD-Kanzlerkandidat schon 1961 versprochen.

Deutschland steht am Abgrund, weil es keine Alternativen mehr hat

Die erste Ölkrise 1973/74 beschleunigte die Abkehr von den arabischen Lieferanten. Die Industrie stellte von Öl und Kohle auf Erdgas um – aus heimischer Produktion, den Niederlanden, Norwegen und der Sowjetunion/Rußland. Und das relativ niedrige Gaspreisniveau hielt viele Industriebranchen in Deutschland; Gas ersetzte Millionen Kohle-, Öl- und Nachtstromheizungen. Erst der gleichzeitige Kohle- und Atomausstieg und der Gaseinsatz zur Schließung der Stromlücke bei „Dunkelflauten“ der Solar- und Windkraftanlagen brachte die Misere: exorbitante Energiepreise und existentielle Abhängigkeit von Gaslieferanten. Alternativen – heimische Förderung, Terminals für Flüssigerdgas/LNG aus Übersee – wurden ideologisch verhindert.

„Insgesamt zeigt sich, daß wir durch einen Lieferstopp auf eine Rezession zulaufen, mit allen Folgen auch für Beschäftigung und sozialen Zusammenhalt in unserem Land“, warnt VBW-Sprecher Brossardt. „Wir plädieren daher eindringlich dafür, ein Erdgas-Embargo möglichst zu verhindern. Sollte es dennoch zu einem Lieferstopp kommen, muß der Bundeslastverteiler dafür sorgen, daß die wirtschaftlichen Schäden möglichst gering ausfallen.“ Die VBW fordert also Verzicht beim Bürger: lieber frieren und kalt duschen, als einen wirtschaftlichen Alptraum zu provozieren.

Prognos-Studie „Folgen einer Lieferunterbrechung von russischem Gas für die deutsche Industrie“:  www.vbw-bayern.de

„80 Millionen gemeinsam für den Energiewechsel“:  www.energiewechsel.de

Foto: Produktion von Glasflaschen: Die nachgelagerten Effekte eines Produktionsstopps sind extrem hoch