© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 26/22 / 24. Juni 2022

Leben unter Preußischblau
Ausstellung: Die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden würdigen den aus Venedig stammenden Stadtansichten-Maler Bernardo Bellotto
Paul Leonhard

Wo heute junge Dresdner faul am Elbufer liegen, jagt 1748 eine Kutsche entlang, balancieren Schiffer an Land, halten Bürger Maulaffen feil und flanieren andere. Sogar ein Künstler mit einem Malblock auf den Knien ist zu sehen. Solch Nebensächliches haben die Betrachter von Bellottos Stadtansicht „Dresden vom rechten Elbufer unterhalb der Augustusbrücke“ wohl noch nie zur Kenntnis genommen, aber da die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden für ihre dem berühmten Hofmaler gewidmete Sonderausstellung einen ungewohnten Ausschnitt für die Plakatwerbung gewählt haben – statt im üblichen Querformat präsentiert sich das Gemälde an den Litfaßsäulen grob vergrößert im Hochformat –, lenkt es so den Blick – neben der wuchtigen Glocke der evangelischen Frauenkirche, dem eleganten Turm der katholischen Hofkirche und dem des Residenzschlosses – auf oft übersehene Details des alltäglichen Lebens.

Wer die heutigen Dresdner, die hier geborenen, aufgewachsenen, verstehen will, muß Bernardo Bellottos (1722–1780) großformatige Gemälde mit den Ansichten der barocken Stadt kennen: Die allerwichtigsten sind neben dem bereits genannten „Der Neumarkt in Dresden vom Jüdenhofe aus“, die Kreuzkirche, die Darstellung des Altmarktes von der Schloßstraße aus mit der intakten und – schon ein Fingerzeig auf das spätere Kriegsschicksal der Kunst- und Kulturstadt – die von den Preußen zerschossene Kreuzkirche.

Überall in den guten Stuben hingen Reproduktionen

Bellotto hat nicht nur von Dresden Bilder geschaffen, sondern auch von Wien und Warschau oder von der elbaufwärts gelegenen Kleinstadt Pirna, aber in keiner anderen Stadt wurden sie von den Einwohnern so verinnerlicht. Den Dresdnern genügte es nach der Zerstörung in der Nacht zum 14. Februar 1945 nicht, diese Ansichten in der Gemäldegalerie Alte Meister jederzeit anschauen zu können, sondern sie wollten sie in den eigenen vier Wänden wissen.

Überall hingen in den guten Stuben in unterschiedlichsten Größen Reproduktionen des alten Dresdens. Erinnerung an den ewigen Phantomschmerz der untergegangenen Stadt. Bellotto hat festgehalten, was die Nachkriegsgenerationen für das von den Westalliierten in einer Nacht zerstörte Elbflorenz hielten, auch wenn die Stadt sich in den knapp 200 Jahren zwischen der Entstehung der Gemälde und der Brandschatzung des Dargestellten verändert hat.

Keine anderen Landschaftsdarstellungen hätten die weltweite Vorstellung von einer Stadt und die Identität ihrer Bürger so geprägt, wie dieses Bild, sagte Bernhard Maaz, Direktor der Gemäldegalerie Alte Meister, einmal gegenüber der Deutschen Welle und spitzte noch zu: „Und wir dürfen uns fragen, ob die Frauenkirche ohne dieses Bild überhaupt wieder aufgebaut worden wäre.“

Wenn die Großväter den Enkeln, auf die Canaletto-Reproduktion über der Couch oder dem Vertiko verweisend, bei der sozialistischen Neubebauung verschwundene Straßen und Gassen benannten, lauschten diese andächtig und versuchten sich alles genau einzuprägen. Dazu kam, daß der Maler detailversessen nicht nur die Gebäude malte, sondern beispielsweise auch eine von sechs Schimmeln gezogene vergoldete Staatskarosse, die über den Neumarkt fährt und in der vielleicht der Kurfürst sitzt, aber mindestens einer seiner Minister. Denn die Bürger verneigen sich. Das regte die Phantasie an, ließ zumindest im Kopfkino die verschwundenen Bürgerhäuser und die nur noch als Ruinenrest gebliebene Frauenkirche wieder entstehen. Wer ahnte schon, daß all das einmal Wirklichkeit werden würde?

Canaletto heißt der italienische Maler noch heute bei den Dresdner, – auch wenn der Kunsthistoriker Fritz Löffler in seinem Standardwerk „Das alte Dresden“, erstmals 1955 erschienen, historisch korrekt von Bellotto schreibt. Denn im Unterschied zu den meisten Dresdnern wußte Löffler, daß Bernardo Bellotto mit dem Weggang aus seiner Heimatstadt Venedig kurzerhand den Namen seines Lehrmeisters, des als Vedutenmaler berühmten Onkels, Giovanni Antonio Canal, genannt Canaletto, übernommen hatte. 

Auch wenn Bellotto bald stilistisch eigene Wege ging, signierte er weiterhin mit „detto Canaletto“, genannt Canaletto. Beide Künstler unterschieden sich zu diesem Zeitpunkt allerdings grundlegend. Der Onkel malte „eine spätbarocke, also eine Rokokomalerei, schön aufgeräumt, harmonisch, ein Wohlklang“, sagt Stephan Koja, Direktor der Dresdner Gemäldegalerie Alte Meister. Bei Bellotto sei der Blick dagegen „teilweise schonungsloser, getreuer und insofern moderner.“ Der Neffe lieferte „nicht nur Postkartenmotive“, sondern „wirklich eine Vorstellung vom Leben des 18. Jahrhunderts, er hat eine Freude, unterschiedliche Bevölkerungsgruppen darzustellen, das Treiben auf den Plätzen, es ist manchmal wie eine Zeitreise“.

Koja ist auch Kurator der Sonderausstellung, der er treffsicher den Titel „Zauber des Realen. Bernardo Bellotto am sächsischen Hof“ gegeben hat und die dem 300. Geburtstag des Künstlers gewidmet ist. Und Koja konnte aus dem vollen schöpfen. Denn die im Auftrag der Wettiner geschaffenen Dresdner Stadtansichten-Bilder blieben an der Elbe, lediglich die Zweitfassungen, die der allmächtige Finanzminister Heinrich Graf von Brühl in Auftrag gegeben hatte, wanderten ab, vieles davon an den russischen Zarenhof.

1747 kam Bellotto nach Dresden. Am sächsischen Hof suchte man gerade einen Nachfolger für Hofmaler Johann Alexander Thiele. Der 25jährige Italiener schien dem sächsischen Kurfürsten Friedrich August II. der richtige Mann zu sein. Was er vorlegen konnte, gefiel. Und der Kurfürst, der auch den Titel eines polnischen Königs und Großfürsten von Litauen führte, war zu diesem Zeitpunkt gut bei Kasse, so daß er dem Maler seine großformatigen Veduten königlich entlohnen konnte. 14 entstanden bis 1753. In den Folgejahren malte Bellotto fleißig weiterhin die Schönheit Dresdens, aber auch elf Ansichten Pirnas und – mit speziellem Auftrag – die Festungen Sonnenstein und Königstein. In Öl gemalt hat er diese aber erst nach eigenen Zeichnungen 1757/58, denn Pirna und der Königstein waren inzwischen Hauptkampfgebiete zwischen den in Sachsen eingefallenen Preußen und den Österreichern.

Friedrich II. hatte es auf die Zerstörung Dresdens abgesehen

Als die Bilder fertig waren, befand sich der königliche Auftraggeber bereits im Exil in Warschau und Bellotto verkaufte die Arbeiten an Kunsthändler. Um den Jahreswechsel 1758/59 verließ er – Frau und Töchter ließ er in Dresden zurück – das unsicher gewordene Sachsen. Über Bayreuth ging er nach Wien, wo er für die Fürsten Wenzel Anton von Kaunitz-Riedberg und Joseph Wenzel von Liechtenstein Porträts schuf, aber – vermutlich für den Kaiserhof – auch insgesamt 13 Ansichten von Wien.

1761 kehrte Bellotto nach Dresden zurück, obwohl sein Haus und ein Teil seiner Kunstwerke und auch der Druckplatten beim preußischen Bombardement der Elbestadt zwischen dem 14. und 20. Juli 1760 zerstört worden waren.

Friedrich II. hatte es auf die Zerstörung des architektonischen Gesamtkunstwerkes abgesehen. Zum Bedauern ihres Königs widerstand die Kuppel der Frauenkirche der Beschießung, aber die Kreuzkirche war nur noch ein Trümmerhaufen. Immer noch beeindruckend genug, daß Bellotto diesen als Mahnmal festhielt, wie es ab 1945 für lange Jahrzehnte die Frauenkirche werden sollte.

Bellotto hatte nicht nur seinen Besitz eingebüßt, sondern sollte bald auch seine Förderer verlieren: Im Oktober 1763 sterben König August III. und Graf Brühl. Den Thronfolger hatte er zwar im Jahr seiner Rückkehr in München kennengelernt, aber der sächsische Hof hatte am Ende des Siebenjährigen Krieges kein Geld mehr, um sich einen Hofmaler leisten zu können. Und sein Einkommen als Lehrer für Perspektive an der neu gegründeten Kunstakademie war zu niedrig, um den Maler an der Elbe zu halten. Er zog ostwärts. Erst wollte er nach Sankt Petersburg, folgte aber dann doch 1766 einem Ruf des polnischen Königs Stanislaus II. August Poniatowski nach Warschau, wo er bis zu seinem Tod 1780 wieder die Position eines Hofmalers innehatte. Auch in dieser Königsstadt wurden seine Stadtansichten eine der Grundlagen für den Wiederaufbau.

In der Sonderausstellung zeigen die Staatlichen Kunstsammlungen nicht nur ihren kompletten Bestand an 36 Bellotto-Bildern, sondern auch gemalte, gezeichnete und radierte Leihgaben aus allen Schaffensphasen Bellottos. Ergänzt wird die Schau durch Bücher, Porzellane, Skulpturen und wissenschaftliche Instrumente, unter anderem auch eine Camera obscura, wie sie Bellotto benutzte, um zuerst mehrere kleine und mittlere Zeichnungen anzufertigen. 

Und noch etwas ist besonders. In den vergangenen Jahren konnten dank der erfolgreichen Einwerbung von Spenden fast alle Stadtansichten restauriert werden. Seitdem leuchtet Bellottos Himmel über Dresden wieder im nicht lichtechten Farbton Preußischblau, dem Berliner Blau.

Besucher der Sonderausstellung, die sich über zwei Etagen erstreckt und bis zum 28. August in Dresden zu sehen ist und dann mit veränderter inhaltlicher Schwerpunktsetzung in Warschau, können nach ihrem Rundgang über die Augustusbrücke spazieren, dann ein Stückchen elbaufwärts, und wenn sie aufmerksam sind, werden sie einen roten Metallrahmen entdecken. Der gleicht einem Bild auf einem Stativ, und wer hindurchschaut, dem bietet sich (nahezu) jener „Canaletto“-Blick von 1748, den man gerade noch in der Galerie bewundert hat.

Die Ausstellung „Zauber des Realen. Bernardo Bellotto am sächsischen Hof“ ist bis zum 29. August im Dresdner Zwinger, Theaterplatz 1, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr zu sehen. Telefon: 0351 / 49 14 20 00

Die Begleitpublikation mit 256 Seiten und 280 farbigen Abbildungen kostet 48 Euro.

 https://gemaeldegalerie.skd.museum

Foto: Bernardo Bellotto, Dresden vom rechten Elbufer unterhalb der Augustusbrücke, 1748: Erinnerung an den ewigen Phantomschmerz