© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/22 / 20. Mai 2022

Gestandene Weltentwickler
Die Gründerväter bundesdeutscher Entwicklungspolitik im Fokus
Oliver Busch

Da Entwicklungshilfe für die damals sogenannte Dritte Welt nicht zu den vordringlichen Aufgaben eines Landes zählte, das soeben einen Weltkrieg verloren hatte, brauchte es einige Zeit, bis 1961 das heutige Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit gegründet wurde. Wie gering das Interesse der Parteien an den existentiellen Problemen des Globalen Südens war, ist an der Zahl der „Entwickler“ im Bonner Bundestag ablesbar, die interfraktionell kaum über jene dreißig Parlamentarier hinauskam, deren Stimmen es brauchte, um in Großen Anfragen zur Entwicklungspolitik auch eine längere Aussprache auf die Tagesordnung setzen zu können.

Mit einem zeithistorischen „Aufreger“ scheint sich Karsten Linne (Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur), der 2021 über die Pionierjahre der Entwicklungspolitik eine umfangreiche Untersuchung vorlegte, also nicht zu befassen, wenn er das Thema nun nochmals, als biographische Fallstudie, anpackt. Sie stellt mit dem Christdemokraten Paul Leverkuehn (1893–1960) und dem Sozialdemokraten Hellmut Kalbitzer (1913–2006) die beiden „‘Gründerväter’ der bundesdeutschen Entwicklungspolitik“ vor (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 3/2022). Diese Konzentration auf zwei Akteure, so sichert sich Linne zeitgeistsensibel ab, wolle keinesfalls die komplexen strukturellen,  außen- und wirtschaftspolitischen Determinanten, die Entwicklungshilfe in den 1950ern bedingten, übersehen zugunsten ihrer Einbindung in eine antiquierte „Geschichte Großer Männer“ verdrängen. Trotzdem führen, gegen die erklärte Absicht des Autors, die Lebensläufe Leverkuehns und Kalbitzers exakt dies eindrucksvoll vor Augen: das niemals zu überschätzende Gewicht von Persönlichkeiten in der Politik.

Bei dem Namen Leverkuehn horcht der Literaturfreund auf. Adrian Leverkühn, so heißt der Tonsetzer, dessen „Höllenfahrt“ Thomas Manns problematischer Altersroman „Doktor Faustus“ (1947) erzählt und sie mit dem geistigen und politischen Geschick des deutschen Volkes verzahnt. Wie so oft bedient Mann sich auch bei dieser sprechenden Namensgebung beim wirklichen Leben: Amtsgerichtsrat August Leverkühn war Senator der Hansestadt Lübeck und – sein Vormund. Daß auch der Werdegang von dessen eigenem Sohn Stoff für einen Roman oder eine epische, die deutsche Geschichte spiegelnde Biographie böte, ergibt sich bereits aus Linnes Kurzfassung der Vita. 

Die Weichen für Paul Leverkuehns politisch-juristische Karriere wurden für den Kriegsfreiwilligen von 1914 im Orient gestellt, wo er zeitweise als Übersetzer beim deutschen Konsul Max Erwin von Scheubner-Richter, einem vielzitierten Zeitzeugen des türkischen Völkermords an den Armeniern, in Erzurum tätig war. 1918 folgt er Scheubner-Richter, der als Gesandter in Riga den roten Terror in der lettischen Räterepublik hautnah miterlebte und mit dem er zusammen in Königsberg die propagandistische Mobilmachung gegen die bolschewistische und polnische Bedrohung Ostpreußens organisierte.

Nach den juristischen Staatsexamina, der Promotion und langjähriger Arbeit als Banker in New York fungierte Leverkuehn von 1928 bis 1930 an der deutschen Botschaft in Washington als Reichskommissar für die Freigabe des 1917 beschlagnahmten deutschen Vermögens in den USA. Auch in den 1930ern, als international operierender Berliner Wirtschaftsanwalt ließ Leverkühn die Verbindung zur Politik nie abreißen, nahm Mandate für die US-Botschaft wahr, bildete in seiner Kanzlei zwei der späteren Köpfe des Widerstands aus: Helmuth James Graf von Moltke und Adam von Trott zu Solz. Denen sollte Leverkuehn in der „Spionagehauptstadt“ Istanbul wiederbegegnen, wo er als Angehöriger des Amtes Ausland im Oberkommando der Wehrmacht (Admiral Wilhelm Canaris) nachrichtendienstliche Aufgaben erfüllte und 1943/44 zusammen mit Moltke Friedensfühler in Richtung USA ausstreckte, was ihm vier Tage vor dem 20. Juli 1944 eine vermutlich lebensrettende Verhaftung durch die Gestapo einbrachte.

In seinem Patriotismus ungebrochen, engagierte sich Leverkuehn nach Kriegsende als Verteidiger sowohl in Nürnberger Prozessen gegen die Wehrmacht als auch im Verfahren eines britischen Militärtribunals gegen Generalfeldmarschall Erich von Manstein. Der Weg in den Bundestag, dem er von 1953 bis 1960 als CDU-Abgeordneter angehörte, war für diesen Homo politicus daher vorgezeichnet. Ebenso, angesichts seiner Auslandserfahrung, war ihm die Führungsrolle in der Entwicklungspolitik auf den Leib geschrieben.

Zukünftige Handelspartner der Bundesrepublik fördern

Das Leben des Hamburger Fabrikantensohns Hellmut Kalbitzer verlief zwar nicht auf solchen Hochebenen, auf denen der „hanseatische Aristokrat“ Leverkuehn wandelte. Doch nicht weniger gefährlich. 1936 wurde der junge Kaufmann, der eine Lehre bei – Kempowski-Fans, aufgepaßt! – Loeser & Wolff in Elbing absolvierte, als Mitglied einer eher sektiererisch anmutenden Splittergruppe, des Internationalen Sozialistischen Kampfbunds (ISK), einer verschworenen Gemeinschaft, aus der sich später die Impulsgeber des Godesberger Programms rekrutierten, wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt und ins KZ Fuhlsbüttel eingewiesen. Er kam 1938 frei, setzte jedoch seine ISK-Aktivitäten im Untergrund bis 1945 fort. Danach wirkte er maßgeblich an der Gründung der Schumacher-SPD in den westlichen Besatzungszonen mit, zog 1949 in den Bundestag ein, profilierte sich in der Fraktion als Entwicklungsexperte, holte auf vielen Reisen nach, was ihm im Unterschied zu Leverkuehn fehlte, nämlich Auslandserfahrung, und erwarb als Autodidakt ein umfassendes Wissen über weltpolitische Zusammenhänge. 

Gemeinsam fochten die beiden passionierten „Entwickler“ 1956 den ersten 50-Millionen-Etat zur Stärkung rückständiger ökonomischer Strukturen in Afrika und im Nahen Osten durch. Während Kalbitzer dabei, jedoch nicht zentral, schon das heute so beliebte moralische Argument strapazierte, der im Industriezeitalter geschaffene Wohlstand des Westens basiere auf „Kolonialausbeutung“, die man via Entwicklungshilfe „wiedergutmachen“ müsse, überzeugte Leverkuehn mit Pragmatismus. Als drittgrößte Außenhandelsnation könne die Bundesrepublik ökonomisch nicht darauf verzichten, in Übersee zukünftige Handelspartner zu fördern und sie nicht in Anarchie fallen zu lassen. Überdies galt es, auf Druck der USA, auch an dieser Front die Systemkonkurrenz mit dem Ostblock, insbesondere mit der entwicklungspolitisch ungemein rührigen DDR, zu gewinnen. 

Das sind nicht unbedingt spektakuläre Einsichten, die Linne hier vermittelt. Gedacht als „Baustein“ für die Frühgeschichte der Entwicklungshilfe, liegt der größere Ertrag seines Aufsatzes denn auch, ausgehend von Leverkuehns und Kalbitzers Viten, in der impliziten Anregung für die vergleichende Forschung zwischen der vom Leben erzogenen, in beruflicher Praxis bewährten, in weiten Horizonten denkenden, weltläufigen Parlamentariergeneration des Bonner Bundestags bis zur Abwahl Helmut Schmidts 1982 und der in der Berliner Republik vom Kreißsaal immer öfter ohne Umweg über Beruf und Studium direkt in den Plenarsaal stolpernden Generation der provinziell-„weltoffenen“ Dummen und Unerfahrenen.

 https://metropol-verlag.de