© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/22 / 20. Mai 2022

Die völkerbindende Weltsprache der Abstraktion
Modern zwar, aber nicht negativ genug: Zum erneut aufgeflammten Streit um Werner Haftmann, den Kunstpapst der Adenauer-Republik
Dirk Glaser

Öffentliche Aufmerksamkeit, die über einen engen Kreis von Fachleuten weit hinausreicht, erregen wissenschaftliche Kontroversen regelmäßig nur, wenn sie sich personalisieren und damit „populistisch“ vergröbern lassen. So begann sich etwa in den 1990er Jahren das Feuilleton erst für die Geschichte der Germanistik in der NS-Zeit zu interessieren, als das „Doppelleben“ des SS-Offiziers Hans Ernst Schneider aufgeflogen war, dem nach 1945 als Hans Schwerte, dekoriert mit dem Bundesverdienstkreuz, eine erstaunliche Karriere als Verfechter „progressiver“ Literaturwissenschaft gelang. 

Solche Debatten, die erst über Skandalisierungen „brauner“ Lebensläufe heißlaufen, sind in der Berliner Republik mittlerweile Legion und folgen ritualisierten Mustern. Im letzten Frühsommer stand Werner Haftmann (1912–1999), sozusagen der „Schneider/Schwerte“ der Bonner Kunstpolitik, auf dem Spielplan. Auslöser war die im Juni 2021 im Deutschen Historischen Museum eröffnete Ausstellung „documenta: Politik und Kunst“. Haftmann, „Erfinder“ und Programmatiker der 1955 aus der Taufe gehobenen Kasseler „Documenta“-Präsentationen moderner Gegenwartskunst, geriet dabei ins Zentrum kritischer Berichterstattung. 

Haftmann feierte die „abstrakte Kunst“

Ihm widmet sich nun, in der Nachschau jener publizistischen „Abrechnungen“ mit Haftmanns „NS-Verstrickungen“, ein weit ausholender Essay von Eckhart J. Gillen (Lettre International, 136/2022). Der an der Filmuniversität Potsdam-Babelsberg lehrende Kunsthistoriker macht gleich eingangs klar, welch großen Fisch er dabei an der Angel hat. Haftmann sei der wohl einflußreichste Kunstkritiker, Ausstellungsmacher und Museumsmann der Adenauer-Republik gewesen, dessen „ästhetischen Direktiven man gehorchen mußte, um als Künstler Karriere im Nachkriegsdeutschland machen zu können“.

Im polnischen Glowno geboren, hatte Haftmann in Berlin und Göttingen studiert und nach seiner Promotion am Kunsthistorischen Institut in Florenz bis 1940 gearbeitet. Sein nach dem Krieg in Kassel umgesetztes, in seinem Standardwerk „Malerei im 20. Jahrhundert“ (1954), in unzähligen Aufsätzen und Artikeln propagiertes Kunstkonzept feierte die sich über Besonderheiten von „Sprache, Sitte, Geschichte, Rassegefühl und Folklore“ erhebende „abstrakte Kunst“, die sich im Kubismus schon vor dem Ersten Weltkrieg ankündigte, als „logische Krönung einer langen Kunstentwicklung“. Soweit Kunst sich in der „Weltsprache der Abstraktion“ ausdrücke, leiste sie einen wichtigen Beitrag zur Völkerverständigung. In diesem Sinne zögen vor allem deutsche Künstler  die richtige Lehre aus der von ihnen nur allzu willig akzeptierten ideologischen Vereinnahmung durch die NS-Kulturpolitik. Und andererseits grenzte sich diese politisch-weltanschaulichen Ballast abwerfende, auch insoweit „abstrakte Kunst“ wirksam von der Kunstdoktrin des „Sozialistischen Realismus“  ab, der den braunen Sündenfall der Kunst unter roten Vorzeichen wiederholte. 

Trotz dieser doppelten Frontstellung habe Haftmanns puristisches Verständnis ideologisch abstinenter Kunst nur unzureichend verdeckt, daß es abstrakte Kunst als „Waffe im Kalten Krieg“ empfahl. Ein Vorwurf, aus dem Gillen aber nicht seine Hauptanklage zimmert. Die ergibt sich vielmehr aus seinem Befund, der westdeutsche Kunstpapst habe nicht wirklich den Bruch mit einer „versöhnenden klassischen Moderne“ vollzogen. Wie das hätte geschehen sollen, dafür ruft Gillen den „Remigranten“ Theodor W. Adorno als Zeugen auf. Der habe gelehrt, daß das „Moment der Negativität“ moderner Kunst wesentlich sei. Weil unter den Bedingungen des falschen Lebens im Kapitalismus ein humanes richtiges Leben unmöglich sei, dürfe die Kunst sich nicht um die Stiftung des schönen Scheins der Harmonie bemühen. Ihre Aufgabe bestehe vielmehr darin, „das unversöhnbare Zerrissene zum Ausdruck zu bringen“ und die „Wunde“ entfremdeten und verdinglichten Existierens in einem alles zur Ware degradierenden Gesellschaftssystem offenzuhalten.

Genau diesem Anspruch sei Haftmanns Kunstkonzept aufgrund seiner „lebenslangen untergründigen Bindung an eine völkische und deutschnationale Einstellung“ nicht gerecht geworden, weil es die von Adorno geforderten „destruktiven ästhetischen Akte als Zeichen für den Bruch mit der Vergangenheit“ schuldig blieb. Durchaus konsequent habe die „Documenta“ daher die wahre Avantgarde moderner Kunst ausgeblendet: jene, die wie Jackson Pollock und die „Abstrakten Expressionisten“ in New York oder die radikalen Vertreter der „anderen Kunst“ in Frankreich (Wols, Jean Fautrier, Jean Dubuffet) alle Prinzipien der Kunst preisgaben, jede bildmäßige Komposition und Farbigkeit negierten und selbst alle hypermodernen „Ismen“, Kubismus, Expressionismus, Konstruktivismus, geometrische Abstraktion, hinter sich ließen. Deren Impulse seien spürbar in der Pop-Art oder bei den Neodadaisten, am sinnfälligsten in radikaler Aktionskunst, wie sie etwa Friedrich Achleitner und Gerhard Rühm 1959 inszenierten. Die beiden jungen Herren fuhren mit einem Motorroller ins Wiener Porr-Haus und zertrümmerten dort coram publico mit ihren Äxten einen Flügel als „Symbol bürgerlicher Kultur“. Provokationen dieses eher lächerlichen Kalibers genügten, um Haftmanns „Weltsprache Abstraktion“ in den frühen 1960ern außer Kurs zu setzen. Zumal, wie der in den Kubismus vernarrte Kunsthändler Daniel-Henry Kahnweiler spottete, die inzwischen staatstragende „Abstraktion“ von allen westlichen Regierungen so peinlich auffällig  alimentiert wurde wie einst die Salonmalerei des 19. Jahrhunderts.  

Zwecks biographischer Untermauerung seiner These von Haftmanns stockkonservativer „harmonikaler Kunst- und Welttheorie“ verweist Gilles zunächst auf dessen an „Heiligsprechung“ grenzendes Nachkriegsengagement für Emil Nolde. Diesen Expressionisten habe er zum Prototyp des in heroischer Einsamkeit der „Inneren Emigration“ schaffenden Künstlers stilisiert. Ein Klischee, das von der Nolde-Forschung inzwischen zerlegt worden ist, war doch der Maler ein frühes Mitglied der NSDAP und blieb es bis 1945. Zu keinem Zeitpunkt wandte er sich von der Partei Adolf Hitlers ab. Als „Entarteter“ erhielt er zwar Berufsverbot, aber kein Malverbot, so daß er in der nordfriesischen Einsamkeit Seebülls ungefährdet „ungemalte Bilder“ produzieren durfte. Gleichwohl sei es gerade der von Haftmann kreierte Widerstandsnimbus gewesen, der Nolde-Gemälden während der Amtszeit Helmut Schmidts den Weg ins Bundeskanzleramt ebnete. 

Engagement für Emil Noldes Expressionismus

Haftmann, so empört sich Gillen, habe Noldes Werk schon 1934 als Vorbild für eine „geläuterte Moderne“ gepriesen und, im Einklang mit Joseph Goebbels, Noldes „nordischen Expressionismus“ als „Stil des Nationalsozialismus“ kanonisieren wollen. Ehrgeizige kunstpolitische Ambitionen, die für Gillen gut zu Haftmanns Eintritt in die SA passen, zur NSDAP-Mitgliedschaft und zu seiner Verwendung als Nachrichtenoffizier eines Panzerkorps in Norditalien, der sich 1944 im Kampf gegen Partisanen auch an Folterungen von Gefangenen beteiligt habe. 

So fügte sich in Gillens Haftmann-Porträt alles zum scheinbar stimmigen Bild von den schlimmen Kontinuitäten zusammen, von denen sich die Gesellschaft der Bonner Republik erst seit 1968 „emanzipiert“ habe. Daß jedoch „die historische Wirklichkeit weitaus facettenreicher war, als sie derzeit gesehen wird“, hat inzwischen Lothar Sickel mit neuen, von Gillen ignorierten Archivrecherchen zum „Fall Haftmann“ (FAZ vom 3. November 2021) belegt. Wäre Haftmann Gillens prototypischer „Nazi“ gewesen, hätte er seine Dissertation 1939 kaum seiner in letzter Minute emigrierten Freundin, einer jüdischen KPD-Sympathisantin, gewidmet. Genausowenig hätte er sich 1940 mit einem Angriff auf Wilhelm Pinder, den damaligen Fürsten der reichsdeutschen Kunstgeschichte, nicht alle Karrierechancen selbst zunichte gemacht, und er wäre wohl auch keine – äußerst stabile – Liaison mit der jüdischen Dichterin Giorgia Valensin eingegangen, die in Florenz und Turin antifaschistische Widerstandskreise unterstützte. 

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