© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 21/22 / 20. Mai 2022

Parag Khanna. Der US-Strategieberater und Publizist prophezeit ein radikal verändertes und ein asiatisches Europa.
Künder der Zukunft
Michael Walker

Parag Khanna ist die Verkörperung des Typus des „Anywhere“, des „Überall-Menschen“, wie ihn der britische Publizist David Goodhart beschreibt: gebildet, vermögend, mobil und kosmopolitisch. Khanna wurde 1977 im indischen Kanpur in eine Oberschichtfamilie geboren, die später nach New York zog. Zunächst arbeitete der Bachelor of Science im Fach Außenpolitik und Doktor der London School of Economics bei der US-Denkfabrik Council on Foreign Relations und beim World Economic Forum. Heute ist er als Autor etlicher Bücher zu Wirtschaft, Geopolitik, Demographie und Migration bekannt und tritt als Redner bei Wirtschaftsforen und in den Medien auf.

Der 44jährige ist ein bekennender Pragmatiker, dessen Prognosen für die Weltwirtschaft und die Demographie im 21. Jahrhundert mit energischem Optimismus einhergehen: Er glaubt fest, daß sich die Welt in die nach seiner Meinung richtige Richtung entwickelt, in der die Zukunft Europas zwangsläufig in Asien liegt. Denn dieses werde die demographischen Ressourcen liefern, die das unfruchtbare Abendland verloren habe. Zudem führe die globale Erwärmung zu unaufhaltsamer Massenzuwanderung aus dem zunehmend unbewohnbaren Süden. 

Riesige Ballungsräume werden die Nationen als die Zentren politischer Macht und Entscheidung ablösen.

Das Schicksal, argumentiert er, werde nicht mehr von der physischen und politischen Geographie diktiert. Für diese unaufhaltsame Entwicklung, die bereits begonnen habe, sei statt dessen Konnektivität bestimmend, eine wachsende soziale Verbindung der Menschen durch internationale Kommunikationsnetzwerke. Bis 2030 leben zwei Drittel der Welt in Städten, riesige Ballungsräume lösen dann die Nationen als Zentren der Macht und politischen Entscheidung ab.

Rechte „populistische Bewegungen“ tut Khanna als „historische Eintagsfliegen“ ab, die angesichts der demographischen und wirtschaftlichen Entwicklung unweigerlich zum Scheitern verurteilt seien. Und die nationale Souveränität werde schließlich dem Druck der globalen Nachfrage und globalen Lieferketten nachgeben. Dann würden die Menschen frei umherziehen und sich dort niederlassen, wo es ihnen gut geht. Migration sieht Khanna demnach nicht als Herausforderung, sondern als Chance: „Menschen zu sammeln bedeutet, Macht zu sammeln.“

In all dem – weder dem Bevölkerungswachstum noch dem Anschwellen der Metropolen zu Megastädten – sieht Khanna ein Problem. Im Gegenteil, er begrüßt diese Entwicklungen regelrecht mit Freude. Doch weicht er einigen offensichtlichen Fragen aus: Wer oder was soll in einer vollständig vernetzten, grenzenlosen Weltwirtschaft den souveränen Staat als Hüter des Rechts und Beschützer der Schwachen ersetzen? Wie wird Verbraucherschutz funktionieren? Was wird die nationale Gerichtsbarkeit ersetzen? Themen, die Unbehagen erzeugen und deshalb von vielen Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gern heruntergespielt, lieber noch verschwiegen werden, werden von Khanna öffentlich proklamiert. Seine Welt des Wachstums (vor allem des demographischen), der Technisierung, Ökonomisierung und unaufhörlichen Migration als der neuen Leitkräfte der Geschichte erscheint entsetzlich. Doch seine Voraussagen, ob man sie nun ermutigend oder erschreckend findet, sollten besser ernst genommen und diskutiert werden.