© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 20/22 / 13. Mai 2022

Die Wüste wächst in der Heimat der Vielen
Anmerkungen zur „wert-orientierten“ grünen Politik für eine neue Mittelklasse
Dirk Glaser

Seitdem die historische Fassade des Schlosses der preußischen Kurfürsten und Könige wieder die Mitte Berlins schmückt, übt sich das links-liberal-grüne Lager im Nachtreten. Wohlwissend, daß sich heute eine parlamentarische Mehrheit für den Abriß des nagelneuen  Prachtbaus natürlich nicht zu organisieren ist, sollte wenigstens das christliche Kreuz von der Schloßkuppel verschwinden. Da dafür allein wenig Stimmung aufkam, wird seit Monaten auch das blau-goldene Schriftband auf der Kuppel skandalisiert. Es verkündet zwei biblische Botschaften, die 1854 von Friedrich Wilhelm IV. ausgewählt wurden, dem auf eine Restauration des christlichen Abendlandes vergeblich hoffenden „Romantiker auf dem Thron“: „Es ist in keinem andern Heil, ist auch kein anderer Name den Menschen gegeben, denn in dem Namen Jesu, zur Ehre Gottes des Vaters. Daß in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind.“

Daß die neue Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) mit ihren zwei Semestern Theaterwissenschaften dumm genug ist, um sich hier bilderstürmerisch zu engagieren und auf die Umgestaltung der Kuppel, wenn nicht gar auf Entfernung von Kreuz und Spruchband zu drängen, verwundert nicht. Wenn hingegen Hartmut Dorgerloh, der Hausherr des als Humboldt-Forum firmierenden Schlosses, sich hinter Roth stellt, um sich im Namen aller dort residierenden Institutionen „ausdrücklich vom Herrschaftsanspruch des Christentums“ zu distanzieren, läßt das aufhorchen.

Doch ein neues Kapitel im Schauerroman vom kulturellen Niedergang der Berliner Republik wird damit erst aufgeschlagen, wenn man wie der Publizist Alexander Wendt danach fragt, was denn diese schrägen „Kulturfunktionäre, die sich vom Kern des Christentums distanzieren“, an die Stelle von Kreuz und Spruchband setzen wollen (Publico vom 21. April). Zündende Ideen scheinen im „Leuchtturm Berlin“, einer Initiative der Kuppelgegner, jedenfalls Mangelware zu sein. Derzeit ist geplant, einen LED-Leuchtstreifen auf das Schloß zu hieven, der die Bibelzitate des preußischen Spruchbandes mit Passagen aus dem Grundgesetz und der UN-Menschenrechtscharta kontern soll. Ob sich die traditionsfeindlichen „Progressisten“ dafür auf einen allgemeinverbindlichen Text  einigen können, erscheint Wendt zweifelhaft. Schon deswegen, weil die angeblich „universellen Menschenrechte“ nicht einmal in jenen islamischen Parallelgesellschaften gelten, die sich innerhalb der westlichen Zivilisation ausbreiten, geschweige denn jenseits der Grenzen Europas und Nordamerikas.

Diese Verlegenheit ist für Wendt symptomatisch. Die „tonangebende Gesellschaft“ sei offensichtlich unfähig, eine unumstritten positive Aussage über ihr eigenes Sozialmodell und die ihm inhärenten Werte zu treffen, da sie eins gar nicht mehr besitze: Identität. Sie könne nur abräumen, Denkmäler stürzen, Straßennamen auswechseln, die Alltagssprache zerstören, Geschlechterrollen „dekonstruieren“, zur Entwurzelung („Ent-Heimatet Euch“) ermuntern, auf allen Ebenen gegen Überliefertes wüten, Leere hinterlassen. Wo die Kulturlosen „gestalten“ (Katrin Göring-Eckardt), regiere Häßlichkeit, würden Wüsten wachsen, beschleunige sich der soziale Zerfall. Wendt schlägt für ein solches Welt- und Menschenbild, das über kein stabiles Wertesystem verfügt, das überhaupt „keinen Kern besitzt“, den Begriff „Absentismus“ vor. 

Demokratie als „Staatsform der permanenten Selbstkorrektur“ 

Die jüngere Generation vor allem grüner „Absentisten“ vermisse im geistig-kulturellen Vakuum einer „Gesellschaft mit völlig leergeräumtem Zentrum“ schon nichts mehr. Ältere wie die grüne Bundestagsvizepräsidentin Göring-Eckardt beschleiche indes das mulmige Gefühl, daß selbst ein Staat, der, wie Plakate der Grünen im schleswig-holsteinischen Landtagswahlkampf willkommenskulturell drohten, lediglich „Heimat der Vielen“ sein will, sowie die dazu passende Gesellschaft der „Erwachten und Diversen“, nun mal „nicht völlig ohne Sinn und Begründung“ auskomme. Diesem Gefühl trage Göring-Eckardts ulkige Idee Rechnung, möglichst bald einen sinnstiftenden „Parlamentspoeten“ zu bestallen.

Ist es tatsächlich das zum Schlagwort geronnene pampige „Ist mir doch egal“ Angela Merkels nach ihrer Schleusenöffnung im Sommer 2015, oder „Das große Egal“, wie es jetzt ein Essay der Ex-Grünen Antje Hermenau beschreibt (Buchhaus Loschwitz, 2022), das die Mentalität ihrer ehemaligen Parteifreunde und die der politischen Klasse insgesamt prägt? Das wird nirgendwo heftiger bestritten als dort, wo sich außer in den GEZ-Medien der höchste Anteil an Grünen-Sympathisanten ballt, in den politikwissenschaftlichen Instituten deutscher Universitäten. Schließlich, so behaupten etwa der Erziehungswissenschaftler Julian Müller (Bamberg) und die Politologin Astrid Séville (München) in ihrer Studie über „Die Wertekommunikation von Bündnis 90/Die Grünen als Ansprache und Fürsprache einer neuen Mittelklasse“ (Leviathan, 1/2022),  gelinge es keiner anderen Partei so überzeugend wie den Grünen, „wertorientierte Politik“ zu treiben.

Wer einen Blick in ihr jüngstes Grundsatzprogramm von 2020 werfe, könne rasch feststellen, daß darin zwar ein vager Bezug zur „Menschenwürde“, aber kein fester Wertekanon und kein geschlossenes Weltbild zu entdecken sei. Doch gerade diese vermeintlichen Leerstellen kennzeichneten den „hypermodernen“ Charakter einer „ideologisch nicht kohärenten und nicht monophonen Partei“, der die Zukunft gehöre. Denn Normen und Werte seien in postnationalen Gesellschaften nicht länger ethnisch, kulturell, historisch vorgegeben. Sie müßten vielmehr, wie es wörtlich heißt, „ausverhandelt“ werden. Demokratie werde daher zu Recht nicht als feste Staatsform begriffen, sondern als „Staatsform der permanenten Selbstkorrektur“. Daher habe Robert Habeck, der grüne Vizekanzler der Ampel-Koalition, als Leitlinie für vier Regierungsjahre die Losung von der „lernenden Politik“ ausgegeben. Unentwegt betone er seitdem, daß seine Partei mit dem Willen zur Selbstkorrektur angetreten sei, mit dem Willen, „Politik immer wieder neu zu justieren“. So spreche er eine „neue Mittelklasse“ an, deren Mitglieder sich als weltanschaulich flexible Nonkonformisten verstünden und die ihre Wertentscheidungen „individuell“ träfen. Die „Vergemeinschaftung  der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) benötige in solchen aufgeklärten Milieus keinen Rückgriff auf überlieferte „gemeinsame Werte“.  Es genüge ein „Appell an die intellektuellen Fähigkeiten der Einzelnen“.

Pech nur, daß eine politologisch derart glorifizierte „lernende Politik“ vom grünen Spitzenpersonal gegenwärtig noch krasser als zu Friedenszeiten ad absurdum geführt wird. Weigert sich doch ein beratungsresistenter Habeck angesichts kriegsbedingt absehbarer Versorgungsengpässe, die Laufzeit der letzten deutschen Atommeiler zu verlängern, den Ausstieg aus der Kohle neu zu terminieren oder gar die ganze famose „Energiewende“ als Irrweg zu erkennen. Auch das Dogma, Quote statt Qualifikation, blieb nach dem Desaster mit der überforderten Ministerin Anne Spiegel von einer „Selbstkorrektur“ verschont. Und eine „Zeitenwende“, die die längst „grandios gescheiterte“ (Angela Merkel in einer hellen Minute ihrer Amtszeit) grüne Multikulti-Politik „neu justiert“, dürfte erst ausgerufen werden, wenn in der „Heimat der Vielen“ der Bürgerkrieg tobt.