© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 17/22 / 22. April 2022

Nie wieder fremdbestimmt
Der zivilisierte Mensch ist Chinese: Aus historischer Demütigung zieht Peking Kraft zum Aufstieg
Dirk Glaser

Egal, wie der Ukraine-Krieg ausgehen mag, der eigentliche Sieger heißt heute schon China. Darin sind sich alle geopolitisch ambitionierten westlichen Kommentatoren des Konflikts einig. Daß das 21. Jahrhundert ein chinesisches sein wird, davon ist auch der in New York „Demokratie, Menschenrechte und Journalismus“ lehrende Publizist und Asien-Experte Ian Buruma überzeugt. Aber im Unterschied zu den meisten Zunftkollegen sucht er nach tieferen Antriebskräften des chinesischen Weltmachtstrebens. Und findet sie in der Geschichte des Reichs der Mitte.

Für seine These von der zentralen Bedeutung der Historie für das politische Selbstverständnis der Pekinger Führungselite liefert ihm kein Geringerer als Xi Jinping das Beweismaterial. Und zwar  kompakt in Form der Rede, die der Vorsitzende der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) im letzten Sommer zu deren 100. Gründungsjubiläum gehalten hat. 

Nationalismus und Kommunismus kommen zu schönsten Deckung

Obwohl gewandet im grauen Mao-Anzug und seinen 1976 verstorbenen großen Vorgänger ausgiebig preisend, habe Xi sich bei dieser Feier keineswegs als Kommunist in Szene gesetzt, sondern sei als Ultra-Nationalist aufgetreten. Seit den 1980ern, beginnend mit dem Pragmatiker Deng Xiaoping, habe der Nationalismus die marxistisch-maoistische Heilslehre als Staatreligion sukzessive abgelöst. Und zwar ein Nationalismus, der nach den seit 2017 geltenden Maßstäben des Bundesverfassungsgerichts als nationalsozialistisch gelten müßte, denn er begründet die chinesische Identität politisch, kulturell und – ethnisch. Nur dem oberflächlichen Betrachter, so warnt Buruma, bleibe die „starke ethnische Unterströmung“ des chinesischen Nationalismus verborgen (Lettre International, 136/2022). 

Wenn Xi vom chinesischen Volk spricht, meint er die größte Volksgruppe der Welt, das Han-Volk, das 90 Prozent der Bevölkerung Chinas ausmacht, genetisch homogen ist und das auf eine 7.000jährige Geschichte zurückblickt. Die, wie Xi in seiner Rede beklagte, für die Zeit zwischen 1839, dem Beginn des ersten Opiumkrieges und 1949, dem Geburtsjahr der Volksrepublik, aber vor allem traumatische Erfahrungen vermittelt. Es ist für den Staats- und Parteichef das Jahrhundert von Fremdbestimmung, kolonialer Unterdrückung und kollektiver Demütigung. In zwei sogenannten „Opiumkriegen“, von 1839 bis 1842 und von 1856 bis 1860, erzwangen Briten und Franzosen für sich und andere europäische Mächte die Öffnung der chinesischen Binnenmärkte. Damit begann die Auflösung von Chinas souveräner Staatlichkeit. Das Riesenreich wurde zum Spielball auswärtiger Mächte aus Europa, aber allen voran Japans, das sich seit 1905 in der Mandschurei eine eigene Kolonie schuf, der es 1931 in Gestalt des „Kaiserreichs“ Mandschukuo zu völkerrechtlicher Anerkennung verhelfen wollte.

Aus dieser historischen Ohnmachtserfahrung, so glaubt Buruma, speist sich der Hauptimpuls für Xis Anspruch, eine weltpolitische Hauptrolle spielen zu wollen. Das Versprechen kommender Größe sei nichts anderes als die Reaktion auf eine Geschichte der Unterwerfung unter äußere Feinde. Wenn ausländische Kräfte versuchen sollten, so schwor Xi seine Zuhörer auf nationale Geschlossenheit ein, „uns zu schikanieren, zu unterdrücken oder zu unterwerfen, werden sie auf eine große Mauer aus Stahl treffen, die mehr als 1,4 Milliarden Chinesen geschmiedet haben. Die Zeit, da die chinesische Nation von anderen schikaniert und mißbraucht werden konnte, ist für immer vorbei.“

Darum muß der Beitrag zur inneren Einheit, die Voraussetzung äußerer Unabhängigkeit ist, von ethnischen Minderheiten auch gewaltsam eingefordert werden können, wie derzeit von den turkmenischen Uiguren und den Tibetern. Frühere Verheißungen kultureller und politischer Autonomie sind der Strategie der Zwangsassimilierung gewichen. Uiguren landen in Lagern, wo man sie nötigt, ihrer Religion, Kultur und sogar ihrer Sprache abzuschwören. Nicht besser ergeht es den Tibetern. Im August 2021 wurde der 70. Jahrestag der Invasion Tibets durch Pekings „Volksbefreiungsarmee“ demonstrativ vor dem Potala in Lhasa zelebriert, einst dem heiligen Palast der Führer des tibetischen Buddhismus. Solche Repressionen seien zwar extreme, aber doch systemlogische Ausformungen der traditionellen Erwartung, „daß Menschen zivilisiert werden, indem sie Chinesen werden“. Wobei zivilisiert eine am Gemeinwohl orientierte Lebensführung meint, so daß Nationalismus und Kommunismus zur schönsten Deckung kämen. Das ist auch weiterhin der Grund, warum die Taiwanesen, die doch zu 97 Prozent zum Han-Volk gehören, sich dieser „chinesischen Zivilisation“ lieber nicht anschließen möchten.

Begradigungen der inneren Front auf Kosten der Minderheiten gehen einher mit einer flächendeckenden, an das Mehrheitsvolk adressierten Memorialkultur. Bereits 1985 wurde in Nanking eine gigantische Gedenkhalle für die Opfer des 1937 in der damaligen Hauptstadt Nationalchinas verübten japanischen Massakers errichtet. Daß es 300.000 und nicht, wie einige japanische Historiker behaupten, „nur“ 150.000 gewesen sind, ist ein erinnerungspolitisches Dogma, das zu bezweifeln nicht erlaubt ist. Und es ist Teil der „patriotischen Erziehung“, ist in schulischen Lehrplänen präsent, in Filmen, Liedern, Büchern. Der Massenmord von Nanking, ohnehin nur der schlimmste von zahlreichen ähnlichen Kriegsverbrechen, stehe daher im öffentlichen Bewußtsein Chinas „auf einer Stufe mit den NS-Todeslagern“. 

Nur die KPCh kann Wiederholung von Interventionen verhindern

Der Haß auf Japan bilde folglich den idealen Nährboden des chinesischen Nationalismus. Die Regierung könne solche Stimmungen in der Bevölkerung wie einen Wasserhahn auf- und zudrehen. Und immer mehr Denkmäler entstehen, um Chinesen an die in der Vergangenheit von ausländischen Mächten an ihrem Volk verübten Grausamkeiten  zu erinnern. Das Wachhalten fremder Greueltaten sei natürlich stets verbunden mit dem Hinweis,  allein die Politik der KPCh als Garant nationaler Einheit könne verhindern, daß sich Interventionen und Untaten wiederholen.   

Wenn US-Präsident Joe Biden sage, die wachsende Macht Chinas sei eine Herausforderung für die demokratische Welt, „könnte er Recht haben“. Wie ein Pfeifen im Wald klinge hingegen seine Versicherung, solange er im Amt sei, werde China nicht an sein Ziel gelangen, zum „führenden, reichsten und mächtigsten Land“ der Erde aufzusteigen.  Denn soweit wie Biden den Gegensatz zwischen Demokratie und Autokratie als Kampf der Kulturen begreife, spiele er Chinas Stärke, seiner ethnischen, kulturellen und politischen Homogenität, in die Hände, weil es eine ebenso kohärente demokratische Welt nicht gebe. Die Demokratien sind, vor allem aus ökonomischer Berechnung, uneins im Umgang mit der kommenden Supermacht. 

 www.lettre.de

Foto. Gedenkzeremonie am Massaker-Museum, Nanking 2014: Mauer aus Stahl von 1,4 Milliarden Chinesen geschmiedet