© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 13/22 / 25. März 2022

Mit leichtem Gepäck gegen die Wokeness
Besser spät als nie: Dem „klassischen Linken“ Matthias Politycki ist aufgefallen, daß es mit der Freiheit von Sprache und Meinung in Deutschland nicht mehr allzu weit her ist
Erik Lommatzsch

Um das Verschwinden der Freiheit sorgt sich Matthias Politycki. Bei Wörtern, Sprache, Themen, dem Sagbaren. Er beklagt Meinungskorridore, Vertreter einer „woken“ Gesinnung, die eifrig ihre Agenden umsetzen, Identitätspolitik sowie die lastende Forderung nach Politischer Korrektheit. Und – um ein Wort von Monika Maron aufzugreifen – die allgegenwärtige „Genderscheiße“.

Politycki, vielfach ausgezeichneter Schriftsteller, dessen Werk immer wieder die große weite Welt zum Gegenstand hat, betont einleitend, daß er sich schon länger in Deutschland nicht mehr wohlfühlte. Zunächst sei es nur zeitweiliges „Unbehagen“ gewesen, zudem habe er den Großteil seiner Zeit „in Asien, Afrika oder sonstwo“ verbracht. Erst mit dem Corona-Lockdown 2020 und dem entsprechenden Festsitzen „in deutscher Befindlichkeit und deutschen Diskursen“ sei ihm die Gewißheit abhanden gekommen, „in einem der freiesten Länder zu wohnen“. Medial beachtet erfolgte vor einem Jahr sein Umzug von Hamburg nach Wien. Die Sprache, die er täglich um sich brauche, habe er dort „in einer weniger versehrten Form wiedergefunden“.

Mit der am neuen Wohnort gewonnenen Energie sei der vorliegende Band entstanden. Er läßt sich als eine persönlich geprägte Bestandsaufnahme der nicht nur ihn bedrückenden Entwicklungen lesen. Während kurios-putzige Formulierungen wie „Störchinnen und Störche“ eher zum ironischen Weiterspinnen des Unfugs einladen, seien „Vereinfacher des Diskurses“ wie „Empörung und Scham“ ein wirkliches Problem. Durch das verkrampfte Bemühen, nicht diskriminierende Bezeichnungen zu finden, würden erst recht Diskriminierungen geschaffen. Begriffe würden tabuisiert oder demonstrativ verwendet. Die westlichen Gesellschaften träten gerade „in eine infantil anmutende Emo-Phase“ ein: „Die essayistische Abhandlung schnurrt zur Twitterbotschaft zusammen“, konzentriert „auf die Setzung des einen Wortes, mit dem alles gesagt ist“. Das vorherrschende Klima ist ihm „Gegenaufklärung“, die „Wokisten“ sehen sich als Interessenvertreter einer von ihnen selbst definierten „Zivilgesellschaft“. Ausgegrenzt werde „fast bei jeder Gelegenheit und stets mit dem Bekenntnis zur offenen Gesellschaft“. Von „Framing“ und „Medienhygiene“ ist die Rede. Verlage bäten Lektoren, die lieferbaren Titel auf neuerdings nicht mehr vertretbare Formulierungen zu überprüfen. Die „Korrektur“ mache weder vor Dantes „Göttlicher Komödie“ noch vor Donald-Duck-Geschichten halt. Als neuer Berufsstand etabliere sich der „Sensivity Reader“, der Manuskripte auf eventuell anstößige Passagen durchsehe. Grammatik werde beschädigt und Sprache schlicht unverständlich, von ästhetischen Aspekten ganz zu schweigen. Politycki fürchtet den „Beginn einer Selbstzerstörung“.

Man möchte dem Ankläger immer wieder zustimmen, auch beim wiederholten Verweis auf die Parallelen zu Orwells „1984“. Allerdings: Man kennt die Dinge nicht erst seit gestern. Politycki schreibt, formuliert als Erkenntnisgewinn, auf ihn wirke es so, „als ob es den Wokisten nur vordergründig um Wörter geht, de facto jedoch um die Überwindung der herrschenden Gesellschaftsordnung“, oder „Cancel Culture“ scheine ihm „die treffende Bezeichnung all dessen, was am Ende den Kulturkanon der westlichen Welt bereinigen und neu gewichten will“. Richtig, aber keinesfalls neu. Mag sein, das Bemerkenswerte besteht darin, daß sich der Autor, der hier als Anwalt von Sprache und Freiheit auftritt, als „klassischer Linker“ versteht.

Dafür, daß man ihn nicht versehentlich falsch verortet, hat er gesorgt. Der Heimatbegriff solle nicht von „nationalpatriotischer Tümelei“ getrübt sein, und wenn er „Wokeness“ als „reaktionär“ bezeichnet, so darf die Anmerkung nicht fehlen, daß –  natürlich –  auch die AfD „reaktionär“ sei, keineswegs sei er „auf dem rechten Auge blind“. Tiefpunkt des Bandes: Politycki spricht über eine von ihm 1993 verfaßte Erzählung über einen „wirklich ekelhaften Rassisten“. Hier komme das „N-Wort“ vor. Außer Frage steht, daß dieses Wort gebraucht wurde, um die besagte literarische Figur mittels ihrer Äußerungen zu charakterisieren und keinesfalls eine persönliche Positionierung des Autors darstellt. Dennoch wird „Neger“ in der entsprechenden Passage des vorliegenden Essays von 2022 nicht ein einziges Mal ausgeschrieben. Ist dies eine besonders subtile Kritik an der angeprangerten, unsinnigen Politischen Korrektheit? Dann zumindest eine sehr sichere. Nein, mit einem „fulminanten Buch“ – wie auf dem Einband angepriesen – hat man es nicht zu tun.

Matthias Politycki: Mein Abschied von Deutschland. Wovon ich rede, wenn ich von Freiheit rede. Verlag Hoffmann & Campe, Hamburg 2022, gebunden, 141 Seiten, 16 Euro