© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/22 / 18. März 2022

Zwischen Theorie und Praxis
Von der Linkspartei bis zur AfD: Noch immer existieren innerdeutsche Ost-West-Spannungen
Thorsten Hinz

Im Januar richtete Hans Modrow, der Vorsitzende des Ältestenrates der Linkspartei, einen offenen Brief an die „Liebe Susanne (Hennig Wellsow), (und die) liebe Janine (Wissler)“, die Co-Chefinnen der Linken, in dem er den desolaten Zustand der Partei beklagte, die bei den Bundestagsahlen unter die Fünf-Prozent-Marke gerutscht und nur dank dreier Direktmandate im Osten in das Parlament eingezogen war. Im Westen lag sie, abgesehen vom Saarland, durchweg unter dem Limit, in den östlichen Ländern bewegte sich der Wähleranteil zwischen mageren 8,5 und 11,4 Prozent. „Bundestagswahlen gewinnt man nicht im Osten, aber man verliert sie dort“, schrieb der 94jährige Modrow. Diesmal hat er die Partei letztmalig knapp gerettet.

Modrow war in der Endzeit der DDR als Reformer, Hoffnungsträger und Alternative zum altersstarren Honecker gehandelt worden. Als er im November 1989 zum Ministerpräsidenten einer „Regierung der nationalen Verantwortung“ berufen wurde, blieb ihm nur noch die Konkursverwaltung des SED-Staates. Das angestaubte Vokabular kann man dem 94jährigen, der den Brief als sein politisches Vermächtnis versteht, pietätvoll nachsehen. Einige Passagen aber haben es in sich.

„Ich kann mich nicht des Eindrucks erwehren, daß auch die Partei wie seinerzeit das östliche Land inzwischen in westdeutscher Hand ist. Ihre Vertreter und Verbündeten geben den Ton an. Wie im Staat gibt es keine Einheit, ich nenne den Zustand Zweiheit. Und das scheint nunmehr auch in der Partei der Fall zu sein.“ Eine feindliche Übernahme unter Genossen also, klar sortiert nach Himmelsrichtung, bei der es um Posten und Mandate, aber auch um Inhalte geht.

Die SED-Terminologie wurde postmodern aufgemöbelt

Modrow zieht eine spektakuläre Parallele zur Vorgängerpartei: „Die SED ging zugrunde, weil die Führung selbstgefällig und arrogant, unbeirrt und unbeeindruckt ihren Kurs verfolgte und ignorierte, was die kritische Basis daran anstößig fand.“ Indem er mahnt, den „Charakter des Systems erkennt man nicht mit Hilfe des Ausschnittdienstes und der sogenannten sozialen Medien“, sondern „aus der Verbindung von Theorie und Praxis“, attestiert er seiner Partei eine vergleichbare Mischung aus Weltfremdheit und Dummheit. Für einen historisch-dialektischen Marxisten wie Modrow ist eine Theorie ohne Praxis abstrakt und führt ins Leere, während eine Praxis ohne Theorie blind ist. Die Parteiführung interessiert sich weder für das eine noch das andere. Ihre Lebenspraxis sind die politischen Apparate, und ihre Theorie besteht aus „Lautmalerei, Anglizismen und Gendern oder (dem) Kampf gegen die Klimakatastrophe“. Was in der DDR die sogenannte „wissenschaftliche Weltanschauung“ war, ist heute die heterogene „Wokeness“-Ideologie. Der alte Mann fühlt sich – mit einem Wort von Wolf Biermann – aus dem Regen in die Jauche versetzt.

Was Modrow seiner Partei vorhält, ließe sich auch den meisten anderen Parteien vorwerfen. Doch die Linke – vordem PDS, im Ursprung SED – hatte lange ein Alleinstellungsmerkmal: Sie stellte in der Parteienlandschaft das einzige originäre DDR-Gewächs dar. Während die Ostpolitiker der anderen Parteien sich mit Konvertiteneifer um den Nachweis bemühten, im Westen „angekommen“, mithin vollwertige Bundesbürger zu sein und die DDR-Erfahrungen in westdeutsche Deutungsmuster einfügten und abwerteten, versuchten Linkspolitiker, die westdeutsche Sprache, die die Sprache der Macht war, partiell in Zweifel zu ziehen und auf ihre Belastbarkeit zu überprüfen. Bei weitem nicht jeder PDS- bzw. Linken-Wähler im Osten war ein stalinistischer Betonkopf. Es bedeutete ihm nur eine Genugtuung, wenn Gregor Gysi im Bundestag oder in Talkshows übermächtige „Besserwessis“ rhetorisch zerlegte. Einer der klügsten politischen Köpfe aus der Ex-DDR, der Theologe Richard Schröder, verglich die PDS mit dem „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ aus der frühen Bundesrepublik.

Die Gysi-affinen Ost-Wähler übersahen, daß die Parteiführung zweigleisig fuhr. Um für die Westlinke und den Westen insgesamt anschlußfähig zu werden, wurde die SED-Terminologie postmodern aufgemöbelt. Bereits im Bundestagswahlkampf 1990 hatte die PDS als Zielvorgabe die multikulturelle Gesellschaft propagiert, was für ihre Stammwählerschaft unverständlich, vor allem aber irrelevant war. 30 Jahre später registriert das Fußvolk der ersten und zweiten Stunde, das für die Partei Spenden gesammelt, Plakate geklebt, Handzettel und Wahlbroschüren verteilt hatte, mit Erbitterung, daß es bloß Platzhalter war für West-Akteure, die nach seinen tradierten Maßstäben einer „Halbwelt“-Kategorie angehören.

Die Profile vieler Linken-Politikern legen nahe, daß sie auf dem freien Arbeitsmarkt kaum vermittelbar wären – eine Eigenschaft, die sie mit Politikern anderer Parteien teilen. Ihre politischen Mandate und Ämter katapultieren sie in privilegierte soziale Höhen. Unreif und empathielos, wie sie nun mal sind, interpretieren sie das als die verdiente Materialisierung ihres vermeintlich höheren Bewußtseins und leiten daraus das Recht ab, auf die Wählerschaft, die sich in ihre Höhen weder aufschwingen will noch kann, verachtungsvoll herabzublicken.

Sahra Wagenknecht wird kaltgestellt

Merkels Grenzöffnung bescherte dem Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow 2015 den „schönsten Tag (s)eines Lebens“ – der politische Lusttraum des linksprotestantischen Gesinnungsethikers aus Hessen hatte sich erfüllt. Der Polit-Hallodri Stephan Kramer, der nacheinander für die CDU, die FDP, die SPD und – ohne entsprechende Herkunft – führend für den Zentralrat der Juden tätig gewesen war, wurde trotz zweifelhafter Qualifikation von Ramelow als Chef des Landesamtes für Verfassungsschutz durchgesetzt. Mit staatlicher Autorität ausgestattet, kann Kramer nun Kritiker der „woken“ Ideologie ins gesellschaftliche und soziale Abseits befördern. So kehrt die Linkspartei unter neuen Vorzeichen in eine ähnlich repressive Position zurück, welche die SED in der DDR innegehabt hatte.

Im Gegenzug wird Sahra Wagenknecht kaltgestellt, die allein über mehr Grips verfügt als ihre innerparteiliche Konkurrenz in der Summe, weil sie auf den Zusammenhang von National- und Sozialstaat pocht. Die naive Freude über den Einzug des Westens, die 1990 in der DDR herrschte, ist dem Eindruck neuer Fremdbestimmung gewichen. Ironie der Geschichte: Zu deren treibenden Kräften gehört ausgerechnet die einstige „Heimatpartei Ost“.

Differenzen in der AfD zwischen West- und Ost-Landesverbänden 

Nicht alle politischen und sozialen Konflikte, die sich dabei auftun, sind exklusive Ost-West-Probleme, sie gewinnen entlang der alten Zonengrenze nur ihre besondere Intensität. Anfang 2021 verkündete der Finanzpolitiker Fabio De Masi aus Hamburg den Verzicht auf eine erneute Kandidatur für den Bundestag. Die Neigung der Parteiführung, die „richtige Haltung“ über das rationale Argument und die soziale Frage zu stellen, war ihm unerträglich geworden. Er habe den G20-Gipfel in Hamburg für verantwortungslos gehalten und habe auch die Einsatzstrategie der Polizeiführung kritisiert, schrieb er, „aber ich finde es genauso falsch, wenn Professorensöhnchen den VW Golf der Krankenschwester abfackeln. Das ist nicht links.“ 

Bewußt oder unbewußt zitiert De Masi einen älteren, grundsätzlichen Konflikt in der europäischen Linken. Der italienische Filmemacher und Publizist Pier Paolo Pasolini – dessen 100. Geburtstag gerade gewürdigt wurde – stellte sich 1968 nach einer gewalttätigen Studentendemonstration in Rom demonstrativ auf die Seite der Polizei. Auf der Seite der Studenten sah er „Gesichter von Vatersöhnchen“, deren „böse(r) Blick“ zwischen Furcht und Arroganz changierte, während „die Polizisten (die) Söhne von armen Leuten“ waren. In diesem Sinne schrieb De Masi, daß ein „Akademiker mit hohem ökologischen Bewußtsein und hohem Einkommen, der öfters eine Fernreise unternimmt, über einen höheren ökologischen Fußabdruck (verfügt) als eine ‘Umweltsau’, die sich keinen Urlaub leisten kann“.

Für die AfD hat sich damit die Chance eröffnet, im Osten die Linke als „Heimatpartei“ abzulösen. Es ist normal, daß daraus innerhalb der Partei gleichfalls Ost-West-Spannungen entstehen. Es gibt nun mal unterschiedliche Erfahrungen und Ausgangslagen, die zu unterschiedlichen Schlußfolgerungen führen. Die Landesverbände im Westen halten es für möglich, mittelfristig eine Koalition mit der CDU anzustreben und die Union gleichsam zu sanieren; auch die Majestät der staatlichen Institutionen steht für sie außer Frage. Im Osten, wo man über das Privileg des Vergleichs verfügt, ist man mißtrauischer und traut auch dem Staat im Bösen mehr zu, weshalb Kritik über Detailfragen hinaus schnell ins Grundsätzliche geht.

So werden im „Erfurter Freiheitsappell“, einer gemeinsamen Erklärung der östlichen Landtagsfraktionen vom Februar 2022, die Corona-Maßnahmen als „Gesellschaftsexperiment“ bezeichnet, „um einen herbeigetesteten Ausnahmezustand“ zu rechtfertigen. Ein „ziviler Ungehorsam“ der Demonstranten sei „ihr gutes Recht“. Gefordert wird „die Aufarbeitung des Handelns des RKI, des Bundesverfassungsgerichts, der Verfassungsschutzbehörden und der öffentlich-rechtlichen Medien“. Das sind in der Tat radikale, an die Wurzel gehende Forderungen, die sich gleichwohl im Rahmen demokratischer Selbstreinigung und -kontrolle bewegen.

Wenn der Präsident des sächsischen Landesamtes für Verfassungsschutz, Dirk-Martin Christian, dennoch mit Sorge auf die Montagsspaziergänge in seinem Bundesland blickt, ist das ein Indiz für die verbreitete systemische Betriebsblindheit. Im Interview mit der Welt monierte er, es würde „eine Ostorientierung“ propagiert und er habe „das Gefühl, in diesen 30 Jahren seit dem Ende der DDR ist die Westbindung hier nicht so recht angekommen“. Den möglichen Zusammenhang mit der Verfaßtheit des Westens thematisiert er nicht, sondern spekuliert: „Die Themen des Protests sind austauschbar. Nach 2015 war es die Migrationskrise, jetzt sind es die Corona-Maßnahmen, danach könnte es die Klimapolitik sein, die Angst vor Preisanstiegen und Wohlstandsverlust.“ 

Dirk-Martin Christian, ein West-Import selbstredend, bilanziert also, daß 30 Jahre demokratische Entwicklungshilfe im Osten nicht recht gegriffen haben. Er spricht die Sprache der Macht, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Irgendeine Kompetenz, die darüber hinausgeht, kann der Entwicklungshelfer jedenfalls nicht geltend machen. Die Anlässe und Gründe des Protests sind nicht „austauschbar“ – was soviel heißt wie „beliebig“ –, sie weisen alle in dieselbe Richtung und wirken kumulativ.

Der Widerstand entspringt einem antiautoritären Impuls

Es handelt sich um Ereignisse und Maßnahmen, in denen sich das Versagen oder die Anmaßung der Politik widerspiegeln und die elementar in die individuelle Lebenswirklichkeit eingreifen. Der VS-Präsident hält es offenbar für angemessen, die Zumutungen und Dummheit der Politik mit den Händen an der Hosennaht hinzunehmen. Es sei, so Christian, „Rechtsextremisten“ in Sachsen gelungen, „in die soziale Mitte einzudringen“ und sogar ehemalige PDS- und CDU-Wähler zu erreichen, die es nicht vermögen, „denen auf die Finger zu sehen, die im Hintergrund agieren“. Der VS-Chef befindet sich damit völlig im Gleichklang mit der Linkspartei: Er variiert einen typischen Topos der SED-Propaganda, die hinter jeder oppositionellen Regung in der DDR den „Klassenfeind“ witterte, der aus dem Westen die Fäden zog.

Neue Studien zeigten, „daß es in Sachsen eine starke Anti-Establishment-Haltung gibt“, was laut Christian den „Wunsch nach einem autoritären Staat“ bezeugt. Eine merkwürdige Argumentation, denn der Widerstand gegen das „Establishment“ entspringt einem antiautoritären Impuls. Die Protestierer erwarten vom Staat, daß er die autoritäre Bevormundung unterläßt und sich stattdessen an der richtigen Stelle als funktionsfähig erweist. Die Frage lautet nicht: Ostorientierung oder Westbindung. Niemand will die DDR zurückhaben. Erinnert aber werden muß auch daran: Das Grüne Gewölbe in der sächsischen Landeshauptstadt hatte eine Revolution, zwei totalitäre Regimes, den Bombenkrieg, die sowjetische Fremdherrschaft überstanden. Die Plünderung durch einen arabischen Clan fand erst unter der West-Ägide statt.

Hans Modrows Bemerkungen über die selbstgefällige und arrogante Staatsführung, die „unbeirrt und unbeeindruckt ihren Kurs verfolgte und ignorierte, was die kritische Basis daran anstößig fand“, reichen über die Linkspartei hinaus. Zugleich ist die innerdeutsche Ost-West-Spannung einer der wenigen Beweger in dieser bleiernen Zeit. Welche politische Kraft wird sie aufgreifen und nutzbar machen?

Foto: Sahra Wagenknecht und Hans Modrow (2001): Das Fußvolk registriert mit Erbitterung, daß es bloß Platzhalter für West-Akteure war