© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/22 / 18. März 2022

Der Fadenriß
Energiepolitik: Deutschland hängt von russischen Rohstoffen ab / Können die drei letzten Kernkraftwerke weiterlaufen?
Manfred Haferburg

Der Ukraine-Krieg deckt Deutschlands Abhängigkeit von Rußland schonungslos auf. Gerhard Schröder (SPD) und Angela Merkel (CDU) stiegen unter Beifall der „Eliten“ aus den wichtigsten deutschen Stromlieferanten aus: Kernkraft und Kohle. Gute Kraftwerke wurden verschrottet und sollten durch Wind und Sonne ersetzt werden. Bis diese energetische Utopie Realität würde, setzte man hasardeurmäßig vor allem auf russisches Gas – Übergangsenergie hieß das im Ampel- und EU-Sprachgebrauch.

Etwa 55 Prozent des Erdgases, 50 Prozent der Steinkohle und 35 Prozent der Öleinfuhren kommen aktuell aus Rußland. So hat Wladimir Putin sich die Deutschen gefügig gemacht. Jetzt müssen sie mit Milliardenüberweisungen dafür seinen Krieg mitfinanzieren. Naive Verzichtsprediger, die noch nie etwas von Primärenergie gehört haben, schlagen jetzt das Frieren für den Frieden vor, wollen autofreie Sonntage und Geschwindigkeitsbegrenzungen, um Putin in die Knie zu zwingen. Das sind alles Maßnahmen, die sich nicht einmal meßbar auf den Importbedarf auswirken würden.

Die einschlägig bekannten Klimawender mit und ohne Professorentitel reiten weiter ihren toten Energiewendegaul und fordern den Ersatz der russischen Energie-Importe durch den blitzschnellen Bau Hunderttausender Windräder und noch einer größeren Zahl an Solardächern. Sie verschweigen, daß dieser Ausbau nicht mal in zehn Jahren zu schaffen ist – Biomasse , Wind, Sonne, Wasserkraft und sonstige „Erneuerbare“ lieferten 2021 nur 16,1 Prozent der Primärenergie für Strom, Haushalte, Wirtschaft und Verkehr: 31,8 Prozent lieferte Öl, 26,7 Prozent Erdgas, 17,9 Prozent Braun- und Steinkohle sowie 6,2 Prozent die Kernkraft.

Mutige Rückruderer von Union und FDP (Schwarz-Gelb beschloß 2011 den beschleunigten Atomausstieg bis Ende 2022) fragen verschämt an, ob man nicht die letzten drei Kraftwerke Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 weiterlaufen lassen oder gar die 2021 abgeschalteten Kraftwerke Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen wieder reaktivieren könnte? Doch das ist deutsche Energiepolitik, wie wir sie seit zwei Jahrzehnten kennen.

Bis vor 15 Jahren gehörte Deutschland zu den führenden Nationen in der Kerntechnik. Die grün-rot-schwarz-gelben Anti-Atom-Glaubenskrieger gaben sich von Anfang an nicht mit der Abschaltung der 17 deutschen Kernkraftwerke zufrieden. Der Ausstieg sollte unumkehrbar gemacht werden. Das ist tatsächlich vollkommen gelungen. Die Forschung wurde durch den Entzug der Mittel unterbunden. Die Ausbildung wurde durch eine Verleumdungskampagne der Kernenergie abgeschafft. Die kommerzielle Stromerzeugung aus Kernenergie ist ab 1. Januar 2023 durch das Atomgesetz verboten. Die Wiederaufbereitung von Kernbrennstoff („Recycling“) wurde verboten. Transporte von abgebrannten Brennelementen wurden verboten. Derzeit feilen die rot-grün-gelben Maschinenstürmer an einem Verbot der Urananreicherung und an einem Verbot der Brennelementen-Fertigung und des Exports.

Nichts ist technisch unmöglich, aber alles hat seinen Preis

Die Fachkräfte sind abgewandert oder in Rente. Die Industrie hat ihre Nuklearfertigung eingestellt oder ins Ausland verlagert. Selbst der in Deutschland erfundene Dual-Fluid-Reaktor ist nun ein kanadisches Unternehmen. Der technische Faden ist nicht gerissen, er wurde abgeschnitten. Deutschland hat sich für viele Jahre aus der Kernenergie verabschiedet. Für den sicheren und ökonomischen AKW-Betrieb benötigt ein Land vor allem eines – politische, ökonomische und soziale Stabilität. Nur unter diesem Gesichtspunkt könnten die verbliebenen Kraftwerke weiterbetrieben werden.

Der Prozeß für den Weiterbetrieb würde eine zeitliche Unterbrechung erfordern, in der die Anlagen nicht betrieben werden dürften, aber mit Personal und technischem Aufwand unterhalten werden müßten. Gibt es in Deutschland jemanden, der bereit ist, diesen Preis zu bezahlen? Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht, da der Fadenriß rückgängig gemacht werden müßte:

l Als erstes müßte das deutsche Atomgesetz völlig novelliert werden – von einer Ampel-Regierung.

l Als zweites müßte für die Eigentümer der Kraftwerke, die Energieversorger, Investitionssicherheit in Form von staatlichen Garantien geschaffen werden – das Vertrauen in die Politik ist futsch.

l Als drittes müßten die vielen tausend Seiten behördlicher Stillegungsgenehmigungen rückabgewickelt und neue Betriebsgenehmigungen für den Weiterbetrieb erteilt werden – das dauert mit der deutschen Behördenbürokratie Jahre.

l Als viertes müßten die bereits seit langem unterschriebenen Personalverträge der Kraftwerke rückabgewickelt werden, so daß genügend qualifiziertes und lizenziertes Personal für den Weiterbetrieb zur Verfügung steht – das würde viel Zeit und Geld kosten.

l Als fünftes müßten neue Brennstoffladungen der Reaktoren bestellt, genehmigt und bezahlt werden – das dauert wohl mindestens zwei Jahre.

Ein Weiterbetrieb der letzten drei Kernkraftwerke ist technisch und organisatorisch nicht unterbrechungsfrei machbar und mit Kosten verbunden. Die Zeit der Unterbrechung schätze ich – nach Abschluß der sehr unwahrscheinlichen Novellierung des Atomgesetzes – auf zwei bis drei Jahr, also ein Weiterbetrieb ab 2025. Dazu müßte eine Politik gemacht werden, die alle gerissenen Fäden der Kernenergiepolitik wieder zusammenknotet. Selbst wenn das gelänge, blieben die Knoten noch Jahrzehnte spürbar.






Manfred Haferburg ist Kernenergetiker und berät Risikoindustrien. Er ist Autor des autobiographischen DDR-Romans „Wohn-Haft“.

 ag-energiebilanzen.de

Foto: AKW Isar 2 bei Landshut: Wind, Sonne, Biogas, Wasserkraft und sonstige „Erneuerbare“ lieferten 2021 nur 16,1 Prozent der Primärenergie