© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 12/22 / 18. März 2022

Der Eiserne Sanktionsvorhang
Rohstoffmarkt: Versuche autarker Versorgung schlugen in der Vergangenheit regelmäßig fehl
Thomas Kirchner

Anderthalb Jahre vor dem 50jährigen „Jubiläum“ der ersten Ölkrise erlebt die Welt einen neuen Angebotsschock: Rußland, der größte Lieferant von so ziemlich allen Rohstoffen, wird umfassend sanktioniert – die Preise explodieren, die Folgen unabsehbar. Am 17. Oktober 1973 verkündete die Organisation der arabischen erdölexportierenden Länder (OAPEC) Liefereinschränkungen, um Ägypten und Syrien, die am 6. Oktober Israel überfallen hatten, zu unterstützen. Der Ölpreis kletterte von 3,05 auf 10,73 Dollar pro Faß – die Wirtschaft brach ein, die Arbeitslosigkeit und die Verschuldung stiegen an. Das Energiesicherungsgesetz der Bundesregierung vom 9. November erlaubte Rationierungen, Preisobergrenzen, Fahrverbote und Tempolimits.

Diesmal ist es der Westen und das einzige asiatische G7-Mitglied Japan, die sich mit Sanktionen selbst ins Knie schießen. Und das nicht nur bei Energie, auch russischer Stahl und Eisen werden nun sanktioniert. Seit dem 24. Februar gibt es zwei Sorten Rohstoffe: billige russische und teure nicht-sanktionierte. Eigentlich würde sich nun die Erschließung neuer Vorkommen lohnen. Doch das dauert: Vom Planungsbeginn bis zur ersten Förderung des größten Kupfervorkommens der Welt, Oyu Tolgoi („Türkishügel“) in der Mongolei, dauerte es 14 Jahre. Ursprünglich sollte es 4,6 Milliarden Dollar kosten, zum Schluß waren es zehn Milliarden. Der weitere Ausbau hat weitere 6,75 Milliarden verschlungen.

Subventionen und Preiskontrollen erhöhen nicht das Rohstoffangebot

Selbst wenn Fracking im dichtbesiedelten Europa erlaubt würde, sind die Vorkommen nicht immer zugänglich: Paris liegt über riesigen Schieferöl- und Gasvorkommen, doch der Eiffelturm wird kaum durch einen Förderturm ersetzt werden. Ein niedersächsisches Vorkommen hat nur ein Neuntel der Größe dieses französischen. Eine autarke Versorgung, etwa die deutsche Kohleverflüssigung zur Kraftstoffgewinnung, rechnete sich nur im Zweiten Weltkrieg. Die DDR setzte ab 1979 wegen der Reduzierung und Verteuerung der sowjetischen Öllieferungen noch mehr auf Braunkohle und die irrwitzige Transportverlagerung ab 50 Kilometer auf die Schiene. Das seit 1982 gebaute dritte AKW (Stendal; 3.880 Megawatt) wurde – auch wegen der westdeutschen „Atomangst“ – nie fertiggestellt.

Gescheitert ist auch die „Importsubstitution“, die zur Zeit der Dekolonialisierung in Mode kam und die in Lateinamerika brachial umgesetzt wurde: Importe wurden mit hohen Zöllen belegt, um eine heimische Industrie aufzubauen. In der Praxis führte dies zu teuren und minderwertigen Produkten. In der Schuldenkrise der 1980er Jahre wurden die letzten Reste dieser Politik – außer im sanktionierten Kuba – aufgegeben. China ist bisher das einzige Land, das Importsubstitution halbwegs erfolgreich umgesetzt hat – allerdings nur durch Diebstahl westlicher Technologie und miserable Bedingungen für Arbeiter. Die Erfahrung zeigt, daß Autarkie unter dem Deckmantel von Versorgungssicherheit zum Scheitern verurteilt wäre.

Die hohen Rohstoffpreise müßten eigentlich die Nachfrage senken. Doch die politisch versprochene „Entlastung“ wird die Preise zusätzlich antreiben – und Energiesubventionen sind besonders kostspielig. Frankreich macht die Erfahrung seit Oktober, wo die Haushalte mit Blick auf den Wahlkampf unterstützt werden: 1,2 Milliarden Euro sollte es ursprünglich kosten. Jetzt sind es schon 20 Milliarden Euro; ein Ende ist erst nach den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen möglich, aber in der politischen Realität wohl unwahrscheinlich. Auch in anderen EU-Ländern gibt es diverse Entlastungsmaßnahmen – finanziert über eine höhere Neuverschuldung. Doch wie lange geht das gut?

Dabei ist noch nicht einmal klar, wie stark die Sanktionen Rußland langfristig schaden werden. Theoretisch möglich ist eine neue Blockbildung, bei der sich China, Indien und Rußland sowie deren Satelliten vom Westen abkoppeln – die UN-Abstimmung zum Ukraine-Überfall (47 „Wackelkandidaten“) zeigte erste Bruchlinien auf. Äußerungen des russischen Handelsministers Denis Manturow, Rohstoffe würden an freundlich gesinnte Staaten exportiert, deuten in diese Richtung. Putin-Rohstoffe würden dann von diesen Ländern billig importiert, teure, nicht-sanktionierte Rohstoffe aus Afrika, Amerika und Australien gingen in den Westen. Die Gesamtmenge von Rohstoffangebot und -nachfrage wäre dann gleich wie heute, lediglich die Lieferketten hätten sich geändert. Der Westen müßte natürlich auch Zwischen- und Endprodukte aus diesem asiatischen Block sanktionieren.

Wenn China mitmacht, wäre die Welt von einem neuen Eisernen Sanktionsvorhang geteilt. Der Welthandel würde schrumpfen wie nach Einführung von vorübergehenden Zöllen im Ersten Weltkrieg und der darauf folgenden Weltwirtschaftskrise. Ein Jahrhundert später sind Zölle der Normalzustand. Diverse Versuche zu ihrer Überwindung (Uruguay- und Doha-Runde; GATT) scheiterten, die Welthandelsorganisation WTO hat sie inzwischen institutionalisiert. Sanktionen sind die Handelsbeschränkungen des 21. Jahrhunderts. Ihre Wirksamkeit hat sich als nicht viel besser als die der Zölle von vor hundert Jahren erwiesen (JF 10/22).

Hohe Rohstoff- und Energiekosten belasten deutsche Firmen enorm

Wie in den beiden Ölkrisen (1973/1979) wird der Angebotsschock doppelt zuschlagen: Inflation bei den Verbraucherpreisen und Rezession in der Produktion. Energieintensive Industrien (Aluminium, Chemie, Keramik, Papier, Metall, Zement usw.) wären in Europa nicht wettbewerbsfähig, wenn teures Flüssigerdgas (LNG) das russische Pipelinegas ersetzen würde, selbst wenn der Produktionsfaktor Arbeit verbilligt und der Lebensstandard gesenkt würde. „Frieren für die Freiheit“ und „weniger an Lebensglück und Lebensfreude“, wie Ex-Bundespräsident Joachim Gauck verlangt, würde weitere Branchen in den Ruin treiben.

Deutschland ist Industriestandort mit unterentwickelter Dienstleistungsbranche. Hohe Rohstoff- und Energiekosten werden daher deutsche Firmen besonders stark treffen – zusätzlich zu Energiewende, Klimaschutz und Corona-Nachwirkungen. Die Aktienkurse europäischer Chemiefirmen nehmen 25prozentige Gewinnminderungen vorweg. Bei deutschen Chemieriesen ging es sogar teilweise 40 Prozent bergab. Die Deutsche Bank verlor zeitweise ein Drittel ihres Marktwerts wegen ihres Rußland-Engagements. Will man die Auswirkung auf die Wirtschaft fiskalisch auffangen, ist die nächste europäische Staatsschuldenkrise unausweichlich.

Bundesanstalt für Rohstoffe: www.bgr.bund.de

Foto: Absperrhähne eines Gasspeichers in Kiel-Rönne:  Ist die Versorgungssicherheit ohne Lieferungen aus Rußland wirklich gewährleistet?