© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/22 / 11. März 2022

Von der Realität eingeholt
Abschied von Illusionen: Die Bundesregierung wirft endlich alles über Bord, was die Politik jahrelang im Brustton der moralischen Überzeugung verkündet hatte
Heimo Schwilk

Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“, sagte die grüne Außenministerin Annalena Baerbock am 24. Februar, als Rußland den Angriff auf die Ukraine startete. Das gilt auch für mich als Publizist. Denn jahrzehntelang hatte unsereins gegen den moralistisch aufgeladenen, pazifistischen Kurs der Bundesregierung angeschrieben, um in der Folge als „kalte Krieger“ oder „Rechte“ niedergemacht zu werden. Und plötzlich ist alles Schnee von gestern. Die neue Bundesregierung setzt einen radikalen Neuanfang, der alles über Bord wirft, was deutsche Parteien jahrelang im Brustton der moralischen Überzeugung verkündet hatten. 

Das Erlebte stellt sogar alles in den Schatten, was Angela Merkel im Zeichen der Raute an Kehrtwendungen in ihrer 16jährigen Amtszeit hinlegte. Der Auftritt von Olaf Scholz im Bundestag vier Tage nach Kriegsbeginn übertrumpfte Merkels beispiellosen Anpassungsopportunismus, den sie unter anderem in der Energie- und Migrationspolitik vollzogen hat. Der Bundeskanzler stellte der Bundeswehr ad hoc ein 100 Milliarden Euro umfassendes „Sondervermögen“ in Aussicht. Und sagte der Nato in seiner flammenden Rede die Erhöhung des Bundeswehr-Anteils von 1,2 auf alljährlich zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu. Der Sozialdemokrat erfüllte also im Handstreich eine Forderung, die US-Regierungen von Obama über Trump bis Biden unablässig gestellt hatten. 

Der von Ulrich Schacht und mir 1994 herausgegebene Band „Die selbstbewußte Nation“ war als Manifest gegen die Lebenslügen eines Landes gedacht, von dem nicht nur die Alliierten erwarteten, daß künftige Regierungen der wiedervereinten Nation Mitverantwortung für die Sicherheit Europas übernehmen würden. Das Gegenteil war der Fall. Erst einmal wollte man die „Friedensdividende“ auskosten und reduzierte die Stärke der Bundeswehr systematisch. Dann stieg man unter der Ägide von Karl-Theodor zu Guttenberg aus der Wehrpflicht aus. Die Bundeswehr, die einmal die größte und modernste Panzerarmee Europas besessen hatte, schrumpfte zu einer schlecht ausgerüsteten Interventionsarmee zusammen – bis am Ende kaum ein Truppenteil mehr auf der Höhe der Zeit war.

Der Ausstieg aus der Wehrpflicht markierte den Niedergang einer Armee, deren Selbstverständnis unablässig durch den Vorwurf, es gebe rechtsradikale Umtriebe, nicht nur in ihren materiellen Grundlagen unterminiert wurde. Inzwischen steht sie „blank“ da, wie ihr vom Heeresinspekteur attestiert wurde. Und gleichsam über Nacht soll die Bundeswehr uns nun vor den Übergriffigkeiten Putins schützen! Olaf Scholz und seine Mitstreiter betrachten Politik als etwas Volatiles, jederzeit Instrumentalisierbares. Ihr Wertefundament ist dünn. Aber eine Armee lebt vom Korpsgeist, von der Abwehr- und Kampfbereitschaft, die man nicht auf Knopfdruck aktivieren kann. Wer seine Armee unter Ideologieverdacht stellt, kann nicht erwarten, daß sie im Konfliktfall funktioniert.

Die jahrzehntelange Realitätsverweigerung der deutschen Politik wird besonders manifest an der Einschätzung von Wladimir Putin. Weil er Deutsch spricht und in seiner Rede 2001 vor dem Bundestag die Achse mit Deutschland beschwor, gilt er als deutschfreundlich. Dabei hatte er als KGB-Offizier in Dresden dienstbeflissen den Auftrag der Sowjet-union erfüllt, die DDR zu überwachen und klein zu halten. In den neuen Bundesländern genießt er bis heute einen Nimbus, der mehr mit der anerzogenen Abneigung vieler Menschen gegenüber den USA zu tun hat denn mit Putins tatsächlicher Rolle als Unterdrückungsagent. Moskau sah in der DDR keinen Bundesgenossen im Kampf gegen den bösen Kapitalismus, sondern schlicht eine kontributionspflichtige Satrapie. Das alles spukt noch immer in Putins Geheimdienstgehirn herum. Auch deshalb versucht er die abtrünnige Ukraine ins Nichts zu bombardieren. Dies wäre auch das Schicksal der Deutschen, wären sie nicht Teil eines Bündnisses, das ihre Illusionen durch Wehrhaftigkeit kompensiert.

Die Deutschen haben zehn Jahre lang, von 1933 bis 1943, eine mörderische Regierung bejubelt, bis die militärische Wende im Osten ihnen die Augen öffnete, wem sie sich ausgeliefert hatten. Man muß nur in die teigigen Gesichter der russischen Generäle und Geheimdienstchefs schauen, die sich von Putin wie ertappte Schüler abkanzeln lassen, um zu wissen, daß es einen 20. Juli in Moskau nicht geben wird. Die Hoffnung, der neue Kreml-Zar würde durch das Militär gestoppt, ist illusorisch. Die westlichen Sanktionen werden das russische Volk schwer treffen, aber Putin nicht zum Aufgeben zwingen. Denn noch immer fließen Gas und Öl in den Westen und spülen riesige Geldsummen in Putins Kriegskasse. 

Ob es in absehbarer Zeit auch einen Sonntag der Kehrtwende in der heillos verfahrenen deutschen Energiepolitik gibt? Ein erstes Wetterleuchten der Einsicht ist der Hinweis des grünen Bundesministers für Wirtschaft und Klimaschutz Robert Habeck, die Laufzeit der deutschen Kohlekraftwerke zu verlängern. Das Opfer für die Versäumnisse hat allein die Ukraine zu tragen, ein Land, das in seiner Mehrheit dem Westen zuneigt. Die Chance, es auf die Konfrontation mit dem Usurpator Wladimir Putin vorzubereiten, wurde versäumt. Man wollte ja nicht als „Bellizist“ erwischt werden. Nun ist jede Hilfe zu spät, und das tapfere Volk wird überwältigt werden.

Wolodymyr Selensky mit seinem grünen T-Shirt ist der wahre Held der Stunde, nicht der aufgeschwemmte russische Präsident Wladimir Putin im korrekten Anzug und hinter den goldenen Türen des Kremls. Vergessen die Macho-Bilder mit nacktem Oberkörper auf dem Pferd, mit Angelrute auf dem Boot und cool hinter dem MG. Das sind alles Attitüden. Billige Selbstinszenierungen eines Autokraten, der Befehle der Vernichtung gibt, die ihn selbst nicht betreffen. Selensky dagegen stellt sich mitten in Kiew dem Bombardement und den Geheimdienstkommandos, die ihn zu töten versuchen. Er verkörpert, wie die FAZ schrieb, den „ikonischen Widerstand“. Die notorischen Putin-Apologeten hierzulande sollten sich Ernst Jüngers Distinktion zu eigen machen. In den „Strahlungen“ schrieb er, sein Sohn Ernstel, der wegen einer Hitler-Schmähung zur „Frontbewährung“ verurteilt wurde und 1944 als Regimegegner in Norditalien fiel, habe immer gewußt, „zwischen Hitler und Deutschland“ zu unterscheiden. Auf heute übertragen: Man kann Rußland und die Russen lieben, ohne den Zyniker im Kreml gut zu finden.

Als die „Selbstbewußte Nation“ 1994 erschien, um Botho Strauß’ fulminantem Essay „Anschwellender Bocksgesang“ einen unüberhörbaren Nachhall zu sichern, war sich der Zeitgeist einig in der Verdammung des Buches als „Flut bräunlicher Prosa“, wie der Spiegel hetzte. Heute liest sich das, was Strauß im „Bocksgesang“ schrieb, wie ein Kommentar zu dem, was derzeit in der Ukraine geschieht: „Daß ein Volk sein Sittengesetz gegen andere behaupten will und dafür bereit ist, Blutopfer zu bringen, das verstehen wir nicht mehr und halten es in unserer liberal-libertären Selbstbezogenheit für falsch und verwerflich. Es ziehen aber Konflikte herauf, die sich nicht mehr ökonomisch befrieden lassen; bei denen es eine nachteilige Rolle spielt, daß der reiche Westeuropäer sozusagen auch sittlich über seine Verhältnisse gelebt hat.“

Peter Glotz, verstorbener Genosse des heutigen Bundeskanzlers, der hier die Linie verlaufen sah, die ihn vom „rechten Denken“ trenne, gab sich als Repräsentant des alten Denkens zu erkennen, wie er damals empört schrieb: „Die Lektion aus meinem Luftschutzkeller sitzt. Ich werde sie mir nicht nehmen lassen, um keinen Preis.“ 

In meinem zuerst in der FAZ und dann noch einmal in einer späteren Auflage der „Selbstbewußten Nation“ abgedruckten Beitrag „Geistlose Brandstifter“ antwortete ich, der Preis für das Nichthandeln sei zu hoch: „Seine Selbstachtung gibt auch der preis, der dem Bedrängten nicht zu Hilfe kommt, wenn Überwältigung droht.“ Das ist auch heute, angesichts der verlogenen „Solidarität“ des Westens, der zuschaut wie ein souveräner Staat vernichtet wird, gültiger denn je. 






Dr. Heimo Schwilk war Fallschirmjägeroffizier und Leitender Redakteur bei der Welt am Sonntag. Er hat mehrere Biographien veröffentlicht, darunter auch „Ernst Jünger. Ein Jahrhundertleben“ (Klett-Cotta 2014). Eben ist der erste Band seiner Tagebuch-Edition „Mein abenteuerliches Herz“ im Landtverlag (Manuscriptum) erschienen. Darin hat der Autor unter anderem die Kontroverse um den Band „Die selbstbewußte Nation“ festgehalten.