© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 11/22 / 11. März 2022

„Um jeden Preis hier raus“
Flüchtlingsreportage I: Unterwegs im Grenzgebiet zwischen Polen und der Ukraine
Hinrich Rohbohm

Sanft landet die aus Deutschland kommende Maschine auf dem Flughafen von Krakau. Geographisch gesehen ist der Ukraine-Krieg hier noch weit weg – 200 Kilometer Luftlinie sind es bis zur Grenze. Doch die Folgen des russischen Überfalls vom 24. Februar sind schon hier zu sehen. Militärfahrzeuge in der Nähe des Rollfelds, Kampfhubschrauber, Transportmaschinen der polnischen Luftwaffe, Flüchtlinge am Hauptbahnhof, Frauen und Kinder, Hunderte, vielleicht auch Tausende, die zwischen Koffern auf dem Boden kauern. Einige haben Klappstühle dabei. Auch Marina hat einen. Die 23jährige ist auf dem Weg zu ihrer Schwester nach Deutschland. „Ich bin einfach nur noch fertig“, sagt sie, lehnt sich zurück, schließt ihre Augen und atmet tief durch. Marina kommt aus der Hafenstadt Mariupol. Ein Ort, der aufgrund seiner Lage am Ufer des Asowschen Meeres, das Rußland kurzerhand zu einem Binnenmeer erklärte, von Beginn an heftig umkämpft war.

Fünf Tage war sie unterwegs. Erlebte Gefechte, Zerstörung, Leid. Staus auf den Straßen, Gedrängel an Bahngleisen. Über Kiew und Lemberg kam sie nach Polen. „Ich sagte mir, du mußt raus hier, um jeden Preis.“ Ihr Freund ist geblieben, kämpft irgendwo bei Mariupol gegen die Russen. Ob er noch am Leben ist, weiß sie nicht.

Ich fahre mit dem Zug von Krakau in die Grenzstadt Przemysl. Drei Stunden später gleichen sich die Bilder. Überfüllte Hallen und Bahnsteige. Manche  halten Pappschilder hoch, auf denen Fahrtziele stehen. Andauernd kommen Taxis, Busse und Kleintransporter an, laden weitere Flüchtlinge von den Grenzübergängen in Medyka und Korczowa aus.

Nach Medyka sind es zehn Autominuten. Großer Auflauf an Helfern, Diplomaten, Flüchtlingen, freiwilligen Kämpfern und Journalisten. Bei den Diplomaten handelt es sich zumeist um Warschauer Botschaftspersonal aus afrikanischen und arabischen Staaten. Sie warten auf Landsleute, die vom Krieg überrascht wurden. Das führe manchmal zu Verwechslungen. „Die Grenzposten haben unsere Leute für illegale Migranten gehalten“, erzählt einer von ihnen der JUNGEN FREIHEIT.

Tatsächlich seien es überwiegend Studenten. „Die Ukraine war für sie aufgrund der günstigen Preise als Studienort attraktiv“, erklärt er. Ein Studium in Westeuropa könnten sich die wenigsten leisten. Inzwischen sei der größte Teil von ihnen aber in Sicherheit.

Keine hundert Meter vom Grenzübergang entfernt lodert ein kleines Feuer, dessen Rauch der Wind in die Nase treibt. Helfer haben hier zwischen zurückgelassenen Kleidungsstücken und Kinderwagen eine Suppenküche aufgebaut. Unmittelbar daneben steht ein weißes Zelt. „Bis gestern war hier noch alles voll mit Afrikanern“, sagt ein Helfer. Studenten, aber auch Asylsuchende, die sich bis zum Ausbruch des Krieges in der Ukraine aufgehalten hätten.

Ein indischer Diplomat spricht gegenüber der JF von 15.000 solcher Fälle. Die Diplomaten begleiten ihre Landsleute zumeist bis nach Warschau. Ob diese dann in Polen bleiben, weiter nach Deutschland ziehen oder zurück in ihre Heimat, ist unklar. Der Inder hat einen Stand mit Wasserflaschen und Lebensmitteln aufgebaut, um die letzten seiner noch in der Ukraine verbliebenen Landsleute in Empfang zu nehmen und sie mit dem Notwendigsten zu versorgen.

Unterdessen kommen immer wieder freiwillige Kämpfer an der Grenze an, bereit, für die Ukraine in den Krieg zu ziehen. „Putin ist ein Aggressor, man muß ihn aufhalten. Es geht hier nicht nur um die Ukraine, die nächsten werden sonst wir sein“, sagt ein Freiwilliger aus Litauen der JF. Einige sind in Uniform gekommen, andere in Zivil, nur mit Rucksack und ein paar Tragetaschen.

Dann geht es ins Grenzgebäude. Eintritt immer nur einzeln. Dann durch ein Drehkreuz. Ab hier gibt es kein Zurück mehr. Ein von Metallzäunen und Stacheldraht umgebener Gang führt durch das „Niemandsland“ zu den ukrainischen Grenzposten. Die Atmosphäre wird angespannter, restriktiver. Keine Fotos mehr, keine Filmaufnahmen. Eine lange Schlange von Flüchtlingen wartet auf der ukrainischen Seite im Ort Schehyni auf den Grenzübertritt nach Polen. Weinende Frauen und Kinder, die sich von Ehemännern und Vätern verabschieden.

„Dürfen Sie auch rüber?“ frage ich den Fahrer auf dem Rückweg

Per Anhalter geht es weiter. Ein Ukrainer hält an: „Nach Lemberg?“ Fragezeichen im Gesicht des Fahrers. „Lwiw?“ Kopfnicken. Einsteigen. Schweigen während der Fahrt. Der Mann spricht weder Deutsch noch Englisch. Die kaum besiedelte Gegend hier sieht noch wenig nach Krieg aus, abgesehen von dem Militär und den Straßenposten. Kurz vor Lemberg heißt es an einer Kreuzung: aussteigen. Der Fahrer bedeutet gestikulierend, daß er ab hier in eine andere Richtung fährt. Ein kleiner Ort ist in der Nähe, wahrscheinlich Horodok. Plötzlich ist aus der Ferne das Heulen von Sirenen zu hören. Aber wo und weshalb? Ein Mann im Ort gibt mit Gestiken Entwarnung. Offenbar hatte es nichts zu bedeuten.

Bald wird es dunkel. Der Akku des Mobiltelefons ist fast leer und der Grenzübertritt zurück nach Polen sollte sich besser nicht bis in die Nacht hinein ziehen. Daumen raus, zurück zur Grenze. Zehn Minuten später hält ein Minivan. Auf dem Beifahrersitz eine alte Frau, hinten mehrere jüngere Frauen. Eine von ihnen stillt ihr Baby. Die Alte rutscht lächelnd zur Seite, bedeutet einzusteigen. Kurze Geste: Nicht lieber hinten? Kopfschütteln meinerseits. Man ist froh, wegzukommen. Glücksfall: Der Fahrer spricht etwas Deutsch, sagt, er habe   Arbeit in Leipzig. Die Gruppe, seine Frau und eine Nachbarfamilie, stammt aus Iwano-Frankiwsk und will aus der Ukraine fliehen.

Meine Frage an den Fahrer ist etwas leichtsinnig: „Dürfen Sie auch rüber?“ Schließlich sind Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren in der Ukraine zur Verteidigung des Landes einberufen. „Ich habe nicht verstanden, ich spreche nur etwas Deutsch.“ Den zweiten Versuch quittiert er mit eisigem Schweigen. Weitere diesbezügliche Nachfragen führen zu einer merkwürdig angespannten Atmosphäre. Es dauert eine Weile, bis sich die Situation klärt. „Okay, ich habe Angst, ja? Einfach Angst“, sprudelt es aus dem Fahrer gereitzt heraus. Sie wollen nach Deutschland. Die Stimmung entspannt sich. „Unser Baby. Sechs Monate alt“, zeigt er nach hinten, nun mit einem Lächeln im Gesicht.

An der Grenze trennen sich unsere Wege. Ich stelle mich bei den Fußgängern an und muß warten – lange warten. Eigentlich sollte es zwei Reihen zum Anstellen geben: eine für EU-Bürger und eine für alle anderen, also vor allem für ukrainische Flüchtlinge, hatten die Grenzbeamten zuvor versichert. Davon ist nun keine Rede mehr. Wieder ertönen irgendwo Sirenen. Hier kümmert das aber niemanden mehr. Die Menschen in der Schlange bleiben ruhig. Ihren Gesichtern ist die Erschöpfung und Übermüdung anzusehen.

„Seit zwei Tagen sind wir nun schon unterwegs“, sagt eine Frau der jungen freiheit. Sie trägt ihren Zweijährigen auf dem Arm. „Ich hoffe, daß wir jetzt bald drüben sind, denn sonst wird es sehr kalt für uns.“ Die Temperaturen sinken in Schehyni in der Nacht derzeit auf bis zu minus sieben Grad. Und wie lange es bis zum Grenzübertritt dauert, weiß niemand. Eine Stunde ist längst um. Dann, nach einer weiteren, trete ich ins Grenzgebäude. Endlich – zurück in Polen, zurück in der EU. Zurück im Frieden.





Wohin spenden?

Viele Leser suchen eine sichere Möglichkeit, zu spenden. Der Senfkorn Verlag Alfred Theisen arbeitet bei der Ukraine-Hilfe mit der Deutsch-Polnischen-Gesellschaft (DPG) Dresden zusammen. Derzeit wird besonders das katholische „Dom Pielgrzyma“ in Lemberg/Lviv unterstützt, in dem viele Flüchtlinge zunächst auf dem Weg zur Grenze stranden. Der Verlag bittet herzlich vor allem um Geldspenden auf das Konto der DPG Sachsen: 

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