© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/22 / 28. Januar 2022

Exzesse im Zeichen des Eros
„Liebe in Zeiten des Hasses“: Der Bestsellerautor Florian Illies montiert Biographie-Schnipsel zu einem Kaleidoskop der Jahre 1929 bis 1939
Dietmar Mehrens

Das Verfahren ist bekannt: Schon in seinem Verkaufsschlager „1913. Der Sommer des Jahrhunderts“ (2012) verbastelte Florian Illies, früher Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, heute freier Schriftsteller, eine Fülle von historischen Momentaufnahmen aus dem Leben berühmter Persönlichkeiten zu einem fesselnden Kaleidoskop der Monate vor dem Ausbruch der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Ein Erfolg, der sich doch wiederholen lassen muß, mag sich da beim Verlag S. Fischer so mancher gedacht haben. Und Illies wahrscheinlich auch.

Also nimmt der Mitherausgeber der Zeit sich nun in gleicher Manier des bewegten Jahrzehnts vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs an. Seine „Chronik eines Gefühls 1929 bis 1939“ unterteilt er dabei in drei Oberkapitel, die er „Davor“, „1933“ und „Danach“ nennt. Das verarbeitete biographische Material ist gewaltig. Das Personenregister im Anhang umfaßt neun Seiten und empfiehlt das lesenswerte Buch auch nach Abschluß der Erstlektüre zur fortgesetzten Nutzung – als Nachschlagewerk.

Die Lehre, die der Autor aus der Sichtung und Auswertung so vieler Briefe, Tagebücher, Memoiren und Sekundärwerke zieht, findet sich auf Seite 306: „Die dreißiger Jahre müssen den Preis für die zwanziger Jahre zahlen.“ Auf jeden Fall faßt dieser Satz den Inhalt von „Liebe in Zeiten des Hasses“ prägnant zusammen. Denn nachdem die „feige, verweichlichte Pyjamaexistenz“ und die „hysterische Käsemilbe“, so karikierte Carl von Ossietzky die beiden NS-Oberchargen Hitler und Goebbels, die Macht übernommen haben, ist es mit der Freude am Dasein vorbei, die im ersten Teil, „Davor“, noch viele Existenzen prägte. Der wortgewandte Herausgeber der Weltbühne steht als eines der ersten Todesopfer in diesem Buch stellvertretend für den Umschwung von einem liberalen, ins Libertäre driftenden Zeitalter, den „goldenen Zwanzigern“, in das der totalitären Unterdrückung und des politkulturellen Verfalls.

Die einzelnen Kapitel, mit denen der Autor von einer Berühmtheit zur nächsten springt, sind, der Ära des schnellen digitalen Textkonsums gemäß, nie länger als wenige Seiten. Manche sind auch so kurz wie das nachfolgende Zitat aus „Davor“, das ein meist übersehenes historisches Detail aus der Zeit vor der Machtergreifung zur Kenntnis bringt: „Elisabeth von Hennigs trennt sich im Jahre 1931 endgültig von Bogislav von Schleicher, läßt sich am 4. Mai 1931 von ihm scheiden, um am 28. Juli 1931 seinen Vetter zu heiraten: Kurt von Schleicher. Diese Scheidung soll später eine fatale Folge haben. Lange traut Paul von Hindenburg den Ratschlägen Schleichers, der ihn täglich davor warnt, der NSDAP die Tür zur Macht zu öffnen. Doch dann brechen die Nazis in eine Anwaltskanzlei in Charlottenburg ein, entwenden alle Dokumente über die Scheidung von Schleichers Frau und spielen die pikanten Details Hindenburg zu. Der ist von der Heiligkeit der Ehe überzeugt – und die Zweifel an der Redlichkeit Elisabeth von Schleichers lassen auch ihren neuen Mann in einem ungünstigeren Licht erscheinen.“

Die preußische Prinzipientreue des Reichspräsidenten ist allerdings im mentalitätsgeschichtlichen Kompendium des Autors eine eher atypische Charaktereigenschaft. Es dominieren Egomanie, Ehr- und Treulosigkeit, schließlich Verzweiflung. Mustergültig steht dafür das traurige Geschick des Ehepaars Zelda und F. Scott Fitzgerald, die bereits 1921 nach Europa gekommen waren: In den Zwanzigern verkörpern sie das aus Amerika herübergeschwappte und in Fitzgeralds Roman „Der große Gatsby“ (1925) fabelhaft zur Anschauung gebrachte „flirrende Jazz-Age, die Gier nach Leben, nicht nach Sinn, die Welteroberung in Sommeranzug und Cocktailkleid“; in den Dreißigern stehen sie vor den Trümmern einer durch F. Scotts Alkoholabhängigkeit und Zeldas Schizophrenie ruinierten Existenz.

Aber auch Betrugs- und Lügenbaron Bertolt Brecht, der sich parallel gleich mehrere, aber immerhin räumlich getrennte Konkubinen hält, und andere polyamore Helden wie Gottfried Benn, Kurt Tucholsky, Jean-Paul Sartre oder Pablo Picasso nehmen breiten Raum ein. Bei der Lektüre verfestigt sich der Eindruck von einer dekadenten und moralisch verwahrlosten Welt, der gar nichts anderes drohen konnte als der Untergang.

Nicht fehlen darf natürlich der Mann-Clan. Jedoch steht weniger der bürgerlichen Konventionen treu bleibende „Buddenbrooks“-Autor im Blickpunkt als vielmehr der erotische Eskapismus der Kinder des berühmten Nobelpreisträgers, der bisexuellen Erika und des homosexuellen Klaus. Das Schicksal des verzweifelten Hitler-Hassers, Gründgens-Gespielen und „Mephisto“-Autors Klaus Mann scheint es dem Autor besonders angetan zu haben. 

Der tragische Niedergang des von den Nationalsozialisten verfemten Kurt Tucholsky, das Leiden an der Geschichte des treuen Tagebuchschreibers Victor Klemperer und das der vielen Exilierten von Sanary-sur-Mer, dem südfranzösischen Badeort, an dem neben den Manns eine Reihe weiterer vertriebener Künstler zusammenkam, sind symptomatisch für die Zeit, die im Buch die Kapitel „1933“ und „Danach“ beschreiben.

Eine Hauptfigur hat diese „Chronik eines Gefühls“ strenggenommen nicht. Dennoch ragt eine aus dem Figurenkabinett heraus: Marlene Dietrich. Aufmerksam verfolgt Illies das Schwanken der Diva zwischen ihrem Regisseur und Liebhaber Josef von Sternberg in Hollywood und ihrem Mann Rudi Sieber im Pariser Exil. Und eigentlich vermißt sie Berlin. Parallel verlaufen die Laufbahnen von Erich Maria Remarque und der Dietrich, die beide kurz vor dem Ende der Weimarer Republik durch Filmklassiker reich und berühmt geworden sind und im September 1937 in Venedig ein Paar werden, ausgerechnet als beider Glücksstern bereits zum Sinkflug angesetzt hat. Alma Mahler-Werfels Verworfenheit, Leni Riefenstahls Doppelspiele und Simone de Beauvoirs bisexuelle Eskapaden werden ebenfalls unter die Lupe genommen: Frauen von zweifelhaftem Ruf bestimmen das Zeitbild, das Illies entwirft. Und auch die meisten Männer sind libidinös Überengagierte oder Schwerenöter.

Daß normal Liebende, treue Ehegatten hier krasse Außenseiter sind, liegt nicht nur an der Scharfstellung auf amouröse Abenteuer, die der Titel vorgibt, sondern vor allem daran, daß die meisten Persönlichkeiten, die der Autor aus dem Dunkel der Vergangenheit hervorholt, einer antibürgerlichen Boheme mit ganz eigenen sittlichen Standards angehörten. „Libibo in Zeiten des Hedonismus“ oder „Exzesse im Zeichen des Eros“ wäre insofern vielleicht der passendere Titel gewesen. Die Heroen des Verzichts und der eisernen Disziplin, Hugo von Hofmannsthal, Claus Schenk Graf von Stauffenberg, Ludwig Wittgenstein, Dietrich Bonhoeffer, aber auch den gereiften Hermann Hesse und Thomas Mann überzieht Illies mit zartem Spott. Das wirkt, als könne er den vom gegenwärtigen Zeitgeist eingesetzten Schiedsrichter in sich nicht immer so ganz zum Schweigen bringen. Zu einigen der Porträtierten fehlt ihm auch einfach der geistige Zugang.

Auch wenn es sich in diesem Buch oft so anhört: Die „goldenen Zwanziger“ waren nicht nur eine Zeit der Freiheit. Stefan Zweig schildert sie in „Die Welt von gestern“ (1942) viel gnadenloser als Florian Illies mit seinem durch hundert Jahre Distanz und fünfzig Jahre Achtundsechziger-Romantik gemilderten Blick. Der belesene Wiener charakterisiert sie als eine Zeit der Tollheit und der Dekadenz: „Keine Sitte, keine Moral“ habe mehr gegolten, urteilte er und nannte diese Irrsinnszeit einen „Hexensabbat“, dessen „Transvestitenbälle“ selbst die Orgien im Rom der Kaiserjahre in den Schatten stellten: „Berlin verwandelte sich in das Babel der Welt [...], denn die Deutschen brachten ihre ganze Vehemenz und Systematik in die Perversion.“ 

Dieses Urteil bestätigen der Lebenswandel Henry Millers, den der Leser bei der Inspiration zu seinen pornographischen Werken „Wendekreis des Krebses“ (1934) und „Stille Tage in Clichy“ (1940) begleitet, und mehr noch der seiner Geliebten Anaïs Nin, die im September 1934 ihr Kind im sechsten Monat (!) töten läßt, als sie bemerkt, daß sie schwanger ist, aber nicht weiß, von wem, da sie außer mit Miller parallel auch „mit ihrem Mann Hugo und ihrem Psychiater Otto Rank intim gewesen“ ist. Der Todesschatten, der auf die Jahre nach 1930 fällt, ist also nicht nur der des NS-Terrors und Grausamkeit kein Privileg der SS. In der Abtreibungsklinik trinkt die Patientin mit ihrem Mann Hugo Champagner, nachdem ihr Liebhaber gegangen ist. Der, Henry Miller, nennt die Pariser Boheme-Hochburg, in der sich all dies zugetragen hat, einen „traurigen Ort“, denn: „Trotz der Geilheit und der Trunkenheit sind diese Menschen in Wahrheit unglücklich.“ Auf wie viele urbane Milieus unserer Gegenwart mag dieses Verdikt gleichermaßen zutreffen? 

Es gehört daher – ob gewollt oder ungewollt – zu den größten Verdiensten dieses von Florian Illies in eine farbige Sprache und einen leichten Ton gekleideten zeitgeschichtlichen Panoptikums, daß es die Epoche, in der wir gerade leben, in einem neuen Licht erscheinen läßt. Auf vielen Ebenen manifestieren sich auch in den Zwanzigern, die gerade begonnen haben, Zügellosigkeit und ethische Entgrenzung, die zwar nur wenige Intellektuelle als Niedergang begreifen, aber als 1918 Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlandes“ erschien, wurden die nötigen Lehren auch nicht gezogen. Man möchte sich kaum ausmalen, was die durch die Lektüre dieses Buches so komprimiert augenfällig gewordenen Parallelen zu den Ereignissen, die knapp hundert Jahre zurückliegen, für uns heute bedeuten mögen: Steuert auch das Europa der Gegenwart nach dem Einbruch des geschickt neu maskierten Bösen auf eine Zeit des Hasses zu, an deren Ende sich alle in Anbetracht der universellen Verwüstung für unzerstörbar gehaltener Werte entsetzt die Augen reiben werden? 

Florian Illies: Liebe in Zeiten des Hasses. Chronik eines Gefühls 1929–1939. S. Fischer, Frankfurt am Main 2021, gebunden, 432 Seiten, 24 Euro

Foto: Schauspielerin Marlene Dietrich in dem Film „Marokko“ (1930): Ganz eigene sittliche Standards