© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 05/22 / 28. Januar 2022

Letzte Zuflucht Bitcoin
Lateinamerika und die Inflation: Ein chronisches Problem ohne Perspektive? Nein, sagt El Salvador
Wolfgang Bendel

Wieder einmal schnellt die Inflation in Argentinien nach oben. Ende letzten Jahres wurden über 50 Prozent erreicht. Das bedeutet, daß die Preise wöchentlich um ein Prozent steigen. Wenn man den Sonderfall Venezuela mit seiner außer Kontrolle geratenen Hyperinflation außen vor läßt, liegt die nach Brasilien und Mexiko drittgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas damit in der Region mit weitem Abstand an erster Stelle, was die Geldentwertung betrifft. Finanzexperten erwarten sogar, daß sich die Inflation in diesem Jahr noch weiter beschleunigen wird.

Während andere Länder des Subkontinents zwar auch immer wieder von Inflationen geplagt werden, ist in Argentinien dieser Zustand seit vielen Jahrzehnten chronisch geworden. Immer neue Wellen der Geldentwertung werden in der Regel nur von kurzen Phasen der Geldwertstabilität unterbrochen. Die Krankheit wurde zur Regel. Was ist los in einem Land, das noch bis in die fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts als integraler Bestandteil der Ersten Welt galt? In einem Beitrag der spanischsprachigen Ausgabe der BBC wurde kürzlich versucht, dem Phänomen nachzugehen.

Es werden verschiedene Erklärungsmodelle vorgeschlagen. Traditionelle Ökonomen weisen darauf hin, daß das Land schlicht zuviel Geld ausgebe, und zwar systematisch. Die Statistik gibt ihnen Recht: In den vergangenen 60 Jahren gab es nur sechs Jahre ohne Haushaltsdefizit (zwischen 2003 und 2008, als die internationalen Rohstoffpreise ein Rekordhoch erreichten und zu einem enormen Anstieg der Einnahmen führten).

Kann Argentinien diesem Teufelskreis entrinnen? 

Trotz vergleichsweise hoher Steuern reichten die Einnahmen des Staates nie aus, um die Staatsausgaben zu finanzieren. Die Staatsschulden konnten nicht beglichen werden, die Gläubiger von Staatsanleihen gingen teilweise leer aus, was naturgemäß die Aufnahme neuer Kredite erschwerte. Niemand gewährt großzügig Kredite, wenn der Kreditnehmer bei früheren Rückzahlungen notorisch unzuverlässig war. Also blieb nur noch eine expansive Geldpolitik übrig, die unweigerlich in eine Inflation mündete. 

Kapitalverkehrskontrollen sind eine weitere Erklärung dafür, daß die Inflation in Argentinien längst chronisch geworden ist. Diese Kontrollen führten dazu, daß es für Argentinier immer schwerer wird, an Dollar zu gelangen. Wenn am offiziellen Devisenmarkt keine Dollar in nennenswerter Menge erworben werden können (momentan sind es nur 200 Dollar pro Person und Monat), entstehen parallele Märkte, auf denen sogenannte blaue Dollar gehandelt werden. 

Knappe Güter erhöhen sich im Preis. Dies gilt auch für Devisen. Größere Transaktionen wie der Kauf von Häusern oder Autos werden nicht mehr in der Landeswährung Peso durchgeführt, sondern in „blauen“ Dollars. Der Wert dieses blauen Dollars übersteigt inzwischen deutlich den Wert des realen Dollars. Dadurch entsteht der Eindruck, der Peso habe stärker abgewertet, als es formell der Fall ist. Eine offizielle Abwertung wiederum der lokalen Währung gegenüber dem Dollar würde die Inflation nur noch mehr anheizen, sind sich Finanzexperten sicher.

Monopolartige Unternehmen, die die Preise kontrollieren und fast nach Gutdünken gestalten können, sind ein weiteres Problem. Dies ist allerdings ein weltweites Phänomen und keineswegs landestypisch.

Egal wie man die ständige Inflation in Argentinien herleiten und erklären will, so ist unübersehbar, daß dieser Prozeß sehr schwer zu stoppen sein wird. Die Inflation hat sich so stark in das Bewußtsein der Bevölkerung eingegraben, daß sich diese eine Welt ohne Geldentwertung schlicht nicht mehr vorstellen kann. Jeder legt die Preise auf der Grundlage der vergangenen Inflation fest, Fachleute sprechen hier von einer „inflationären Trägheit“. Ein erheblicher Teil der aktuellen Preiserhöhungen wird durch die Inflation der Vormonate begründet.

Ein argentinischer Ökonom bringt es auf den Punkt: „Es gibt Leute, die erhöhen ihre Preise jeden Monat um x Prozent. Vorsichtshalber. Da man nicht weiß, was passieren wird, sichert man sich so weit wie möglich ab.“ Das dürfte tatsächlich der Kern des Problems sein. Durch jahrzehntelang immer wieder auftretende inflationäre Wellen konditioniert, erhöhen viele Argentinier ihre Preise „auf Vorrat“, um für den nächsten inflationären Schub gewappnet zu sein. Leider haben denselben Gedanken auch andere, wobei es einerlei ist, ob es sich um Wirtschaftstreibende oder Gewerkschafter handelt. So erhöhen alle immer wieder Preise und Löhne, ohne zu bedenken, daß sie dadurch die inflationäre Spirale ins Unendliche drehen. 

Kann Argentinien diesem Teufelskreis entrinnen? Vielleicht könnte die Einführung einer digitalen Währung eine mögliche Alternative sein. Nayib Bukele, der für unkonventionelle Maßnahmen bekannte Präsident von El Salvador, führte in seiner Heimat als erstem Staat der Welt den Bitcoin als gesetzliches Zahlungsmittel ein, um das Entwicklungsland vor steigenden wirtschaftlichen Problemen wie der Inflation zu schützen.

Der Bitcoin-Kauf in El Salvador verlief nach Angaben des Bitcoin-Blogs „Coincierge“ nicht reibungslos: „Die Staatsverschuldung des Landes ist auf über 50 Prozent des BIP angestiegen. Außerdem hat die Ratingagentur Moody‘s aufgedeckt, daß die Bitcoin-Geschäfte das Risiko für die Kreditwürdigkeit des Landes erhöht haben.“ Doch Bukele läßt sich nicht beirren und nutzt den Krypto-Kurseinbruch, um günstig 410 Bitcoin nachzukaufen.

Ein Vorgang, der dennoch weltweit Beachtung findet, vor allem auch in anderen Ländern Lateinamerikas. Die mexikanische Senatorin Indira Kempis, die kürzlich das kleine Land besuchte, um sich über die Auswirkungen dieser Maßnahme zu informieren, zeigte sich überzeugt: „Die Zukunft des Finanzwesens ist digital, laßt uns Lateinamerika wohlhabender, integrativer und freier machen“.

Kempis zeigte sich überzeugt davon, die Einführung von Bitcoin in Mexiko zu fördern, damit alle Menschen ohne Diskriminierung Zugang zu virtuellen Geldtransaktionen hätten.

Noch kämpft Buenos Aires gegen boomende Kryptowährungen

In Argentinien wiederum gibt es noch keine genaue Regelung oder einen Rechtsrahmen für Kryptowährungen. Angesichts des Booms digitaler Zahlungsmittel sah sich die argentinische Zentralbank veranlaßt, den Argentiniern in Erinnerung zu rufen, daß diese „kein gesetzliches Zahlungsmittel“ seien. Momentan verfügt das „Bundesamt für öffentliche Einnahmen“ (AFIP) lediglich über Informationen bezüglich der Bewegungen, des Gesamtbetrags der Einnahmen oder Ausgaben in Kryptowährungen und der Herkunft des Kapitals sowie über den monatlichen Kontostand in Pesos, Fremdwährungen und Kryptowährungen.

Angesichts dessen wenden sich immer mehr Argentinier dezentralisierten digitalen Geldbörsen und Plattformen zu, die nicht in Argentinien ansässig sind, weshalb die Steuerbehörde keine Informationen über ihre Finanzbewegungen und Investitionen in Kryptowährungen hat. 

Statt durch übertriebene Regulierung die Kapitalflucht weiter anzuheizen, wäre es an der Zeit, daß sich offizielle Stellen in Buenos Aires Gedanken darüber machten, ob man den sich bildenden Markt digitaler Zahlungsmittel zur Inflationsbekämpfung nutzen kann. 

Foto: „Bitcoin wird akzeptiert“: Die Kryptowährung als anerkanntes Zahlungsmittel in San Salvador