© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

Der Flaneur
Planierte Geschichte
Paul Meilitz

Es war einer der Lieblingsorte meiner Kindheit. Und eine jener Stätten, an denen mir mein Vater das Interesse an Geschichte einpflanzte. Da mein Vater niemals ein Auto besaß, unternahmen wir unsere Exkursionen stets zu Fuß. Dabei kamen nicht selten über zehn Kilometer zusammen, die ich klaglos bewältigte. Allein wichtig war ein sinnvoll ausgefüllter Tag. 

Wenn es regnete, verkrochen wir uns unter dem Laubdach einer Eiche oder im rauchgeschwängerten Schankraum einer Dorfkneipe. Wir bewegten uns im Brandenburgischen, und viele Dörfer, darunter auch von Theodor Fontane besuchte, verfügten noch über ein vitales Eigenleben. Ausgangspunkt unserer Wanderungen war eine Stadt im Süden von Berlin.

Ein friedensbewegter Vandale kippte kürzlich die Urne eines preußischen Leutnants um.

Das „Mittelzentrum“ bot ein eher tristes Antlitz, was auch heute noch zutrifft. Dafür hatte es die Umgebung in sich. Die Reste einer im Kiefernwald versteckten Flugzeugmotorenfabrik aus dem Zweiten Weltkrieg wurden zu meinem ersten Abenteuerspielplatz und ermöglichten sogar das Eindringen in Anlagen unterhalb der aufgerissenen Betondecke. Doch das eigentliche Interesse bildeten die zahlreichen Hinterlassenschaften aus dem Jahr 1813. Hilfreich war der unverfängliche Zugang, denn die Befreiungskriege gehörten zum straff ausgesiebten Erbe des ersten und hoffentlich auch letzten deutschen Staates mit kommunistischem Habitus. 

Jüngst zog mich die Sehnsucht hin zu jenen Orten, die ich mit meinem inzwischen verstorbenen Vater erkundet hatte. Allerdings hätte ich es wohl besser lassen sollen. Besagtes „Mittelzentrum“ hatte inzwischen die umgebenden Gemeinden aufgesogen und damit auch den verborgen im Wald befindlichen Schauplatz eines Gefechts vom 22. August 1813 geerbt. 

Ein nach Selbstauskunft „antimilitaristischer“ Anwohner sah kürzlich keinen Hinderungsgrund, die markante Urne eines preußischen Leutnants vom Sandsteinsockel zu kippen. Dabei zerfurchte der Vandale auch das Sammelgrab jener Männer, die vor 208 Jahren für die Verteidigung ihrer Heimat das Leben gaben. Konsequenzen muß der friedensbewegte „Aktivist“ nicht befürchten. Stadt, Kreis und Land hatten es unterlassen, das Ensemble unter Schutz zu stellen. Nicht nur ein Ort meiner Kindheit war ausgelöscht. Auch ein Teil unserer Geschichte.