© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

Onkel Ottos Weihnachtsbaum
Freude in schweren Stunden: Eine ganz persönliche Erinnerung an eine künstliche Tanne
Martina Meckelein

Künstlich oder naturell? Beim Weihnachtsbaum scheiden sich die Geister. Dabei hat ersterer eine fast genauso lange Tradition wie der im Wald geschlagene. Und wenn auch die Geschichte des Weihnachtsbaumes an sich gut dokumentiert ist, so wird doch die seiner wirklich dauergrünen Kopie stiefmütterlich behandelt. Das hat sie wirklich nicht verdient. Schließlich ermöglichte ihre Produktion, zugegeben nicht immer naturgetreu, vielen Menschen ein Einkommen – nicht nur im Winter. Und darüber hinaus hat die in Plastik oder Metall gegossene Nachbildung des deutschen Traumes von Frieden auf Erden in den schwersten Stunden vielen Menschen genau das vermittelt. Ein Hoch also auf die Kopie – und damit komme ich auf Onkel Ottos Weihnachtsbaum.

1945. Das Mietshaus in der Bissingstraße in Harburg hatte allen Luftangriffen getrotzt. Ganz oben im Dachgeschoß, in zwei Zimmern, war meine dreiköpfige Familie einquartiert worden. Zu neunt waren sie insgesamt. Zwar gehörte uns das Haus, „doch in Hamburg regierten die Kommunisten“, erzählte meine Oma mir viele Jahre später. Und das Wort Kommunisten sprach sie mit derselben unnachahmlichen Verachtung aus wie das Wort „Geschtapo“ oder Engländer. Die letztgenannten hatten mehrere Wohnungen requiriert, samt Inventar. Bei ihrem Abzug blieb wenigstens das Haus an seiner Stelle.

Alternativen aus Federn für die Frontsoldaten

Es war kalt, in Hamburg herrschte die blanke Not. Dafür konnten sich die Bauern im Umland ihre Ställe mit Perserteppichen auslegen – neben Zigaretten waren sie eine Zeitlang die einzige Währung. Kohlen wurden von den vorbeifahrenden Waggons, die Richtung England unterwegs waren, geklaut und das dieselverseuchte Korn aus der Elbe gesiebt, wenn mal wieder ein Schiff abgesoffen war. Es drohte die Weihnachtszeit.

Das alte Haus wurde zur ersten Anlaufadresse für Flüchtlinge aus Köslin, der Heimat meiner Familie. Das Dachgeschoß füllte sich mit Menschen, wurde aber nicht wärmer. Zum Heiligabend sollte jeder ein Stück Holz oder Kohle als Geschenk mitbringen. Damit es wenigstens einmal warm werden würde. Und so saßen sie dann um den bullernden Ofen herum. Still war es in der Wohnung – bis Onkel Otto hereinspaziert kam.

Der kleine Mann sprach sechs Sprachen fließend und war ein herzensguter Mensch. Nur leider war es dem Altsprachler nicht vergönnt, der Unbill des Lebens etwas an praktischer Intelligenz entgegenzusetzen. Seine Arbeit in einer nicht ohne Grund kleinen, denn eher im Dunkeln agierenden Fabrik – sie hatte sich der Umarbeitung von Stahlhelmen in Schreibtischlampenschirme verschrieben – war ebenfalls von wenig Erfolg gekrönt. Nun hatte er aber Kollegen, die schnell spitzbekamen, daß Otto zwar keinen Schraubenschlüssel halten konnte, dafür allerdings überaus geschickt im Ausfüllen diverser englisch- und deutschsprachiger Formulare war. Der kluge Otto wurde so für die Belegschaft unabkömmlich, und sie achtete darauf, ihn nicht über Gebühr mit handwerklichen Tätigkeiten zu beschäftigen und so bei guter Laune zu halten. Eine Einsicht, die andere vorher nicht hatten. UK gestellt war Otto, was er immer bedauert hatte, zuvor nicht.

An diesem Heiligabend also stand der kleine, vormals etwas rundliche Mann in dem überfüllten Dachgeschoß. Er holte mit strahlenden Augen hinter seiner Nickelbrille ein in völlig zerknittertes Papier gewickeltes Weihnachtsgeschenk aus seiner Manteltasche. Doch es war kein Brikett, wie alle erhofft hatten. „Es war ein grün angemalter Weihnachtsbaum aus Eisen. Arbeitskollegen hatten ihn für Otto gemacht“, erzählte meine Mutter mir später schmunzelnd. Und wenn auch die Enttäuschung der Anwesenden zuerst groß war, so wurde doch dieses Bäumchen an diesem 24. Dezember 1945 der Mittelpunkt des Abends. Und es war so gar nicht künstlich, es war absolut real.

So real, wie die zusammenklappbaren Federbäumchen aus Sonneberg. Sie waren ganz weiß, denn ihre Nadeln waren Gänsefedern, daher auch der Name. Die Bäumchen standen schon im Ersten 

Weltkrieg an allen deutschen Fronten. Familien hatten sie ihren Ehemännern, Söhnen und Brüdern geschickt. Oder so real wie der Möllner Baum, der nach dem Zweiten Weltkrieg von der Till-Eulenspiegel-Stadt hinaus seinen friedlichen Siegeszug um die Welt antrat. Okay, bis Chinesen heimlich eine Kopie von der Kopie aus Spritzguß herstellten.

Ottos Bäumchen ist 420 Gramm schwer und 24 Zentimeter hoch. Einmal im Jahr, für etwas mehr als 24 Tage, steht es zwischen allen Engelchen und Räuchermännchen, die sich in dieser Zeit so angesammelt haben. In diesem Jahr zum 76. Mal. Zugegeben, mitten im Wohnzimmer leuchten die roten Wachskerzen auf einer Nordmanntanne, aber das Eisenbäumchen wird immer bleiben und mit ihm die Erinnerung an längst vergangene Zeiten und liebe Menschen.

Foto: Das ewgie Grün damals 1945 in Hamburg Harburg: Oft sind es die kleinen Dinge, die das größte Lächeln hervorzaubern