© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

Geistige Brandstifter
Wiederentdeckung des Werks des französischen Historikers Augustin Cochin über die Hintergründe der Revolution von 1789
Karlheinz Weißmann

An der Wand des Panthéon in Paris, an der die Namen der im Ersten Weltkrieg gefallenen französischen Schriftsteller verzeichnet sind, steht auch derjenige Augustin Cochins. Mit 38 Jahren mobilisiert, mehrfach verwundet, im Heeresbericht wegen seiner Tapferkeit namentlich erwähnt und ausgezeichnet, wurde Cochin am 8. Juli 1916 in einem Gefecht an der Somme getötet.

Damit endete vor der Zeit die Laufbahn eines Historikers, der – das läßt auch sein fragmentarisches Werk erkennen – einen bedeutenden Beitrag zur Geschichte der Französischen Revolution geleistet hat. Diese Feststellung gilt vor allem, weil Cochin sich gegen die vorherrschenden Deutungen dieses Umbruchs wandte: gegen die offiziöse Sicht der Dinge, die „1789“ als Beginn einer glorreichen Entwicklung hin zu „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ verstanden wissen wollte, aber auch gegen die punktuelle, stark psychologisierende Kritik Hippolyte Taines an den Akteuren, und gegen die Komplottheorie, der zufolge das Ancien régime als Folge geheimer Machenschaften von Protestanten, Freidenkern und ausländischen Drahtziehern zugrunde gegangen war.

Letztere Position wurde vor allem im katholischen und royalistischen Lager vertreten, das in Frankreich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert immer noch erheblichen Einfluß ausübte und dem Cochin schon aufgrund seiner Herkunft aus einer Notabelnfamilie nahestand. Seine intensive Beschäftigung mit der Vorgeschichte der Revolution festigte in ihm aber die Überzeugung, daß die Annahme eines großen Komplotts falsch sei und von entscheidenden Faktoren ablenkte. Zugleich wies er aber die Behauptung zurück, es habe 1789 einen Akt spontaner Erhebung des geknechteten Volkes gegeben, unterstützt von der fortschrittlichen und selbstlosen Intelligenz.

Vielmehr müsse man, so Cochin, die Vorgeschichte von Ballhausschwur, Bastille-Sturm und Bauernerhebung einbeziehen, um zu verstehen, warum es nicht nur eine „Revolte“ – ähnlich den zahlreichen „Jacquerien“ der Vergangenheit – gegeben habe, sondern eine „Revolution“. Für seinen Erklärungsansatz konzentrierte er sich auf die „Sociétés de pensée“, die „Denkgesellschaften“, worunter er alle möglichen geselligen und literarischen, zum Politisieren neigenden Vereinigungen faßte, die sich im 18. Jahrhundert sprunghaft ausbreiteten. Beflügelt von den Ideen der Aufklärung – weniger der ätzenden Kritik Voltaires als den Schwärmereien Rousseaus –, fanden hier die sogenannten philosophes, eine Gruppe mehr oder weniger etablierter Intellektueller, eine Bühne, eine Möglichkeit, ihre Vorstellungen zu erproben und sie dann mittels Flugblatt, Zeitung, Zeitschrift, Traktat und Buch in Umlauf zu bringen.

Die Denkgesellschaften benutzten die Masse der Bevölkerung

Die Zensurbehörden waren dagegen machtlos, zumal sich die neuen Vorstellungen gleich einer missionarischen Religion verbreiteten. Nach Cochins Auffassung entstand so der Nährboden für eine utopische Auffassung, die über alles Existierende im Namen der Vernunft Gericht hielt und nur Verdammungsurteile aussprach. Ihren Maßstäben konnte nichts genügen, keine Gegenwart den Vergleich mit den Zukunftsbildern in leuchtenden Farben aushalten. Gleichzeitig wußten die Träger der „Philosophie“, daß eine radikale Veränderung der Lage allein mit den Mitteln des Geistes ausgeschlossen war. Als brauchbares Instrument für ihre Pläne betrachteten sie die breite Masse der Bevölkerung, die unter keineswegs eingebildeten, sondern tatsächlichen Mißständen litt. Ihr gegenüber erweckte man den Eindruck, als ob es um die Verbesserung der konkreten Lebensumstände gehe, während man von Anfang an entschlossen war, die Realisierung eines Idealstaates voranzutreiben, wie ihn die Geschichte der Menschheit noch nicht gesehen hatte. 

Sehr deutlich wurde diese Doppelstrategie an den von Cochin untersuchten „Beschwerdeheften“ der Bauern, die für den Ausbruch der Revolution eine wichtige Rolle spielten. Gegen die (in Schulbüchern immer noch gern kolportierte) Behauptung, hier habe es sich um einen echten Ausdruck des Volkszorns gehandelt, wies Cochin darauf hin, daß die cahiers in einer Sprache abgefaßt waren, die der einfache Mann kaum beherrschte, und ihr Inhalt bis in die Formulierungen hinein ein verdächtiges Maß an Stereotypen aufwies. Was als Ausdruck der Empörung der kleinen Leute erschien, war in erster Linie das Ergebnis einer gesteuerten Kampagne.Damit gingen die philosophes von der Theorie zur Praxis über, täuschten ihre politische Basis über alle weitergehenden Absichten und nutzten eine akute Krise des von Selbstzweifeln geplagten Systems. Zu welchem Ende das führte, war deshalb für Cochin kein Zufall. Seiner Auffassung nach gab es einen inneren Zusammenhang zwischen dem, was in den Denkgesellschaften ausgebrütet worden war, dem Ballhausschwur, dem Terror, der Korruption, der Diktatur, den zweieinhalb Jahrzehnten Krieg und dem gesellschaftlichen wie ökonomischen Kollaps, von dem sich Frankreich nicht wieder erholen sollte.

Politischer Umschwung hängt von einer geistigen Vorbereitung ab

Allerdings waren diese Vorgänge nicht mehr Gegenstand seiner Untersuchungen, die der Karolinger Verlag dem deutschen Publikum nun in Auswahl vorstellt. Verdienstvoll ist das schon deshalb, weil so Hinweise auf Zusammenhänge geliefert werden, die in bezug auf die Genese der „westlichen Moderne“ gern übersehen werden. In seinem Vorwort betont Patrice Gueniffey zudem, daß nur durch den Hinweis François Furets – bis heute der maßgebliche Historiker der Revolution – das Werk Cochins dem Vergessen entrissen wurde. Eine Feststellung, die hier nur um ein Detail ergänzt sei: Im selben Jahr 1978, in dem Furet sein Werk „Penser la Révolution française“ (deutsch 1989 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft) veröffentlichte, erschien in den Editions Copernic – dem Hausverlag der „Neuen Rechten“ – eine Zusammenstellung von Beiträgen Cochins unter dem Titel „Les sociétés de pensée et la démocratie moderne“, sicher auch, um deutlich zu machen, wie stark jeder politische Umschwung von einer geistigen Vorbereitung abhängt.

Augustin Cochin: Die Revolutionsmaschine. Ausgewählte Schriften. Karolinger Verlag, Wien 2021, broschiert, 190  Seiten, 24 Euro

Foto: Mirabeau spricht auf der Sitzung der Generalstände am 23. Juni 1789: Gegenüber der breiten Masse erweckte man den Eindruck, als ob es um die Verbesserung der konkreten Lebensumstände gehe, während man von Anfang an entschlossen war, die Realisierung eines Idealstaates voranzutreiben