© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

Die Kollektivpsyche des frühen Bundesbürgers
Die entschleunigten Deutschen
(dg)

In der Zeitgeschichte steht die Frühphase der Bonner Republik inzwischen im Verdacht, „hoffnungslos ausgeforscht zu sein“. Was Clemens Escher, Referent im Bundesministerium für Bildung und Forschung, nicht davon abhält, mit Hilfe des Terminus „Epochenverschleppung“, einer Variante von Ernst Blochs „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“, die westdeutschen Gründerjahre aus neuer Perspektive zu betrachten (Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 9/2011). Als Materialbasis dienten dafür 2.000 Vorschläge zur Kreation einer „Bundeshymne“, die nach der Vorstellung von Theodor Heuss, des ersten Bundespräsidenten, das Deutschlandlied ersetzen sollte. Die kollektiven psychischen Dispositionen, die sich in diesen Texten niederschlagen, zeugten zwar vom zähen Fortleben alter Selbstbilder wie dem Glauben an Fichtes Ursprungsmythos von den Deutschen als welthistorisches Volk. Diese mentalen Relikte hätten die Bundesbürger aber nicht auf Distanz zur jungen Republik gebracht, weil sie es verstanden habe, Neues mit Dagewesenem zu verschmelzen und sozialpolitisch für „Entschleunigung“ zu sorgen. Damit seien „Lebenszeit und Weltzeit“ (Hans Blumenberg) wieder systemstabilisierend entkoppelt worden, während es zentrale Signatur der NS-Diktatur gewesen war, für die „Wahnidee“ deutscher Weltrettung zu vereinnahmen. 


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