© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

Warum „populistische“ Bewegungen bleiben werden oder: Die „Unsichtbaren“ und die „Allgegenwärtigen“
Eine dauerhafte große Kluft
Alain de Benoist

Das außergewöhnliche Mißtrauen immer breiterer Volksschichten gegenüber den Regierungsparteien und der politischen Kaste im allgemeinen zugunsten von Bewegungen neueren Typs, sogenannten populistischen Bewegungen, ist zweifelsohne die markanteste Veränderung in der politischen Landschaft seit mindestens zwei Jahrzehnten.

Dieses Phänomen, das zunächst Süd- und Westeuropa betraf (Syriza, Podemos, Front National, Fünf-Sterne-Bewegung, Lega Nord, Partij voor de Vrijheid), bevor es sich auf Mitteleuropa, Deutschland (AfD), Nordeuropa (Sverigedemokraterna) und die angelsächsischen Länder („Brexit“) ausbreitete, erreichte inzwischen sogar die USA (Phänomen Trump und Sanders). Überall bestätigt sich das Ausmaß der Kluft, die sich zwischen dem Volk und der politischen Klasse auftut. Überall treten neue Konfliktlinien zutage, die die alte Spaltungslinie links – rechts als überholt hinstellen. (...)

 Seit mehreren Jahrzehnten stellt das Volk fest, daß sein Alltagsleben durch Entwicklungen stark belastet wird, zu denen man es nie befragt hat, und daß die politische Kaste, von welcher Richtung auch immer, nie versucht hat, diese Entwicklung abzuschwächen oder aufzuhalten.

Zunächst die Immigration. Innerhalb von zwei Generationen, begünstigt durch Familienzusammenführungen und starke Zuwanderung, nahm die frühere, zeitlich begrenzte Einwanderung die Form einer auf feste Ansiedlung gerichteten Zuwanderung an. Diese rasche, schlecht kontrollierte Massenzuwanderung wurde negativ aufgenommen, löste in allen Bereichen (Schule, Alltagsleben, Arbeitswelt, Sicherheit, Kriminalität) eine Reihe von sozialen Pathologien aus, erzeugte beziehungsweise verschärfte kulturelle Brüche oder konfessionelle Spaltungen, belastete Sitten und Bräuche arg und veränderte die Zusammensetzung der Bevölkerung grundlegend. Die Volksklassen, die vornehmlich damit konfrontiert werden, haben das Gefühl, daß die Politiker sich weigern, diese Probleme frontal anzugehen, als wenn nur die Wahl zwischen Gutmenschentum und Fremdenfeindlichkeit bestünde. Der Aufstieg des islamischen Dschihadismus und die Häufung der Anschläge haben die Lage nur noch verschlimmert.

Dann die Europäische Union. Seit Anfang der 1980er Jahre führte der europäische Aufbau zum Abbau ganzer Teile der Souveränität der Mitgliedstaaten, ohne daß diese auf eine höhere Ebene übertragen wurde. (...) Die europäischen Institutionen entstanden außerdem von oben nach unten. Die Völker wurden an dem europäischen Aufbauprozeß nicht beteiligt, und in den seltenen Fällen, in denen sie befragt wurden, ließ man ihre Stellungnahme unberücksichtigt. Der europäische Aufbau, der lange Zeit als Lösung für alle Probleme, als Allheilmittel hingestellt wurde, erscheint heute vielmehr als ein Problem, das zu den anderen hinzukommt. (...) Gespalten, macht- und hilflos, gelähmt – die EU hat schluß­endlich Europa diskreditiert, das die herrschende Ideologie nur noch als „ein Behältnis auffaßt, das seinen Inhalt selber ausleeren soll, um dem Ganz Anderen Platz zu machen“ (Élisabeth Lévy).

Und zuletzt die Globalisierung. Durch den Zusammenbruch des sowjetischen Systems ermöglicht, das die Zweiteilung der Welt symbolisierte, bedeutete die Globalisierung eine maßgebliche Revolution, die unser Verhältnis zur Welt grundlegend verändert hat. Indem sie einen Wandel vom Normativen zum Kognitiven vollzog, brachte sie nicht mehr nur Unternehmen und Erzeugnisse in eine Wettbewerbssituation, sondern auch soziale Systeme und ganze Nationen, setzte auf diese Weise dem langsamen Aufstieg der Mittelklassen ein Ende und machte jene sozialen Errungenschaften, die in der Phase der „dreißig goldenen Jahre“ (1945–75) der Arbeitswelt abgerungen worden waren, völlig unhaltbar. Durch Produktionsverlagerung ins Ausland und durch Wettbewerb unter Dumping-Bedingungen mit den zahllosen unterbezahlten Lohnarbeitern der Dritten Welt hat sie sowohl die kollektive Verhandlungsmacht der Beschäftigten zerstört als auch die Souveränität der Staaten untergraben, die nun aufgefordert wurden, ihren politischen Willen nicht mehr zu gebrauchen.

So entstand eine Welt ohne Außenraum, ohne Alternative, die nur noch dem Gesetz des Profits unterordnet ist. Von der Geschäftswelt im Namen des Prinzips des freien Verkehrs der Menschen, des Kapitals und der Waren verteidigt, wird sie von links aus moralischem Kosmopolitismus und abstraktem Humanismus unterstützt; alle sind sich einig, um die internationalen Wanderungsbewegungen zu legitimieren, ebenso die weltweite Vereinheitlichung der Normen und der Standards, den Abwärtsdruck, der auf die Löhne ausgeübt wird, und die drohenden Entlassungen. Die Globalisierung steht für viele „Gewinner“ unter den Eliten, aber für Millionen Verlierer im Volk, das außerdem begreift, daß die wirtschaftliche Globalisierung den Weg zur kulturellen Globalisierung freimacht – und dabei dialektisch neue Zersplitterungen hervorruft. (…)

Das Volk hat lange geglaubt, daß sich die Dinge mit einem Regierungswechsel verbessern würden. Das Volk glaubt es nicht mehr, seitdem es festgestellt hat, daß die Großparteien, die noch gestern vorgaben, frontal gegeneinander zu opponieren, nichts mehr voneinander unterscheidet. Es ist immer das gleiche Ergebnis, also die gleiche Enttäuschung. Will man das politische Leben in der Marktsprache analysieren, so zeichnet es sich durch ein immer geringeres Angebot gegenüber einer immer mehr unzufriedenen (...) Nachfrage aus. Die Bestürzung begünstigte zunächst den Verzicht auf die Stimmabgabe, dann die Protestwahl, dann den Populismus. Die populistischen Parteien waren nämlich die ersten, die eine Veränderung in den politischen und sozialen Forderungen wahrnahmen, die die traditionellen Parteien – selbst bei gutem Willen ihrer Mandatsträger – nicht begreifen (...).

Die Kluft zwischen der politischen Kaste und der Wählerschaft ist problematisch, insbesondere für die Linke, die in der Vergangenheit immer behauptet hatte, die Bestrebungen und die Forderungen der unteren Schichten des Volkes besser zu vertreten als die Rechte. Doch hat sich die Linke allmählich vom Volk abgeschottet. Die Links­intellektuellen haben die messianischen Hoffnungen aufgegeben, die sie einst in die Arbeiterklasse setzten, während die politischen Eliten sich aus Klassenverachtung allmählich von den unteren Volksschichten abgeschnitten haben. (…)

Parallel dazu trug das Aufkommen einer hedonistisch-libertär geprägten linken Kultur (der „Bobo“-Kultur; ein Begriff für die Worte bourgeois und bohémien) ebenfalls dazu bei, die Linksparteien von den unteren Volksschichten abzuschneiden. Diese erlebten nun mit Bestürzung die Entstehung und die mediale Installierung einer mondänen und arroganten Linken, die eher geneigt ist, sich für die gleichgeschlechtliche Elternschaft beziehungsweise die Regenbogenfamilie, die Immigranten ohne Rechtsstatus, die zeitgenössische Kunst, die Minderheitenrechte, die Debatte um Geschlechterrollen respektive Geschlechtsstereotype, die Politische Korrektheit, die körperlichen Phobien und die ständige Überwachung des Verhaltens anderer einzusetzen, als die Interessen der Arbeiterklasse zu verteidigen. Der kulturelle Liberalismus schloß sich damit dem Wirtschaftsliberalismus an, der zur grenzenlosen Marktexpansion alle traditionellen Lebensformen zu zerstören sucht, allen voran die Familie, die eine der letzten Widerstandsinseln gegen die Alleinherrschaft des Marktwerts darstellt. ­(…)

Dieser Verlust der Bezugspunkte und der Verhaltensmuster ist vor allem der Tatsache geschuldet, daß für die herrschende Ideologie der Mensch grundsätzlich kein soziales Wesen ist und sich selber aus dem Nichts aufbauen könne; zudem werden alle Menschen als grundsätzlich gleich vorausgesetzt („die Gleichen“) und sind daher untereinander austauschbar. Auf normativer Ebene soll nun alles gefördert werden, was den Menschen noch „unabhängiger“ von seinesgleichen macht: Verherrlichung des „Nomadismus“, freier Verkehr der Menschen und des Kapitals, Lobpreisung jeder Art von Hybridisierung, Leugnung der kollektiven Identitäten, Ausrottung der besonderen Kulturen, programmiertes Vergessen des Vergangenen, Ausmerzung identitärer Bestrebungen, Kritik an allen Formen der Zugehörigkeit und der Abstammung. Die „Liberalisierung der Sitten“ rührt selber von der Notwendigkeit her, sämtliche Areale des gesellschaftlichen Lebens dem kapitalistischen Konsum zu unter­werfen; die Linke verteidigt nur noch eine nicht genau festgesetzte Freiheit, die gleichgültig gegenüber den institutionellen und gesellschaftlich-historischen Bedingungen ist, die ihre Einführung ermöglichen. Diese Freiheit ist übrigens auch der liberalen Anthropologie eigen.

Nun aber legt das Volk die Abschaffung aller Normen nicht als größere Freiheit aus. Das Volk lehnt spontan eine „Gegenkultur“ ab, die sich vorgenommen hat, alle seine Orientierungspunkte abzubauen auf der Basis einer abstrakten Vorstellung der Freiheit, die dieser jeglichen Bezug auf einen wesentlichen Regelungsrahmen wegnimmt. Das Volk nimmt undeutlich wahr, daß frei zu sein nicht sich losreißen und ablehnen bedeutet, sondern bestimmten Orten, Situationen und Lebensarten anzuhängen und an ihnen teilzuhaben; dazu müssen die Bedingungen (darunter die gegenseitigen Verpflichtungen) anerkannt werden, die die Autonomie der menschlichen Gemeinschaften ermöglichen.

In einer Welt, in der bis auf die technische Autorität der „Experten“ sämtliche Formen der Autorität nacheinander entlegitimiert wurden und in der die vertragliche Übereinkunft und der Handelsaustausch die einzigen Institutionen sind, die Beziehungen der Menschen untereinander regeln sollen, begreift das Volk gelegentlich, daß dieser Sinnverlust mit der Art zusammenhängt, wie die wirtschaftlichen Beziehungen die sozialen Beziehungen in den Hintergrund gedrängt haben. (...)

Die Entfesselung der Logiken des Unbegrenzten in einer Welt ohne Orientierungspunkte erzeugt in den Köpfen ein tiefes identitäres und existentielles Unbehagen. Wenn von Populismus die Rede ist, muß dieses Unbehagen berücksichtigt werden (...).

Hierin ist der Populismus auch eine soziologische Erscheinung: Er ist eng verbunden mit der Situation des Volkes, wo das vorherrschende Gefühl das einer dreifachen Ausgrenzung ist: einer politischen, einer sozialen und einer kulturellen. Die kulturelle Unsicherheit setzt ein, wenn man sich im eigenen Land nicht mehr heimisch fühlt, wenn man zu Recht oder zu Unrecht anfängt, seine Nachbarn aufgrund ihrer ethnokulturellen Herkunft oder ihrer Religion als Gefahr wahrzunehmen. (…)

Eine ungeheure Vertrauenskrise trifft gleichzeitig die Menschen, die Institutionen und die Medien. Man glaubt niemandem mehr, man glaubt an nichts mehr. In einem System eingeschlossen, in dem man alles tun darf, vorausgesetzt, daß es nichts ändert, werden unsere Zeitgenossen verrückt: Jeden Tag haben sie die Folgen von Entscheidungen zu tragen, die sie nicht getroffen haben; jeden Tag werden sie mit der Abstreiterei der Medien konfrontiert, die dafür sorgen, daß wir alles verdrängen, was uns entsetzt; jeden Tag müssen sie die moralische Überlegenheit ertragen, die die Eliten einzig für sich in Anspruch nehmen. Dann revoltieren unsere Zeitgenossen gegen das liberale Einheitsdenken, den herrschenden Mainstream, dem zufolge es zur neoliberalen Ordnung keine Alternative gebe und die Auflösung der Völker im Weltmarkt der einzige Erwartungshorizont in der Geschichte der Menschen sei.

Mit dem immer tiefer werdenden Graben zwischen dem Volk und der herrschenden Klasse gehen auch politische Legitimität und politische Realität auseinander. Da sich die öffentliche Meinung vom Palastdenken abgekoppelt hat, erleben wir eine neue secessio plebis, einen Ausmarsch des einfachen Volkes. Der „Plebs“ spaltet sich innerhalb der nationalen Gemeinschaft ab, nicht weil er sie zerstören will, sondern weil er sie auf anderen Grundlagen neu aufzubauen gedenkt. Infolge der Aushöhlung des Politischen hat sie nämlich ihre Fähigkeit eingebüßt, das Soziale zu institutionalisieren. „Ohne eine Implosion des herkömmlichen politischen Systems“, schreibt ­Christophe ­Guilluy, „scheint die Zersplitterung der Gesellschaft unvermeidlich zu sein.“

Das ist das Hauptmerkmal des Populismus: Er ordnet sich in ein nicht mehr horizontales (links – rechts) Oppositionsschema ein, sondern in ein vertikal verlaufendes (...). Er beruht (...) auf der Überzeugung, daß eine technokratische und Finanzelite, die in den führenden Medien sowie an allen Schalthebeln der Macht installiert ist und auf dem komplizenhaften Einverständnis, wenn nicht auf der Korruption aufgebaut ist, geflissentlich beschlossen hat, den Wählern ihre Macht, also sämtliche Möglichkeiten der Einflußnahme, zu nehmen, um ihre Machenschaften jeglicher Kontrolle zu entziehen.

Diese Elite, die geteilter Meinung nur über die einzusetzenden Mittel ist, um zu den gleichen Zielen zu gelangen, hält an Werten fest und propagiert Parolen, in denen sich das Volk nicht wiedererkennt. Sie verhängt neue Leitlinien, die das Volk verurteilt, da sie zu einer Verschlechterung seiner Lebensweise führen. Von der gesellschaftlichen Realität abgekoppelt, wird sie außerdem als der Nation fremdstehend wahrgenommen, sofern sie gegen nationale Interessen gleichgültig und stark entterritorialisiert ist.

Der Gegensatz zwischen Herrschenden und Beherrschten meldet sich also eindrucksvoll zurück. Die People haben das Volk abgelöst. Die herrschende Ideologie, die in den Machtkreisen mehrheitlich vertreten ist, in den Volksschichten dagegen in immer geringerem Maße, verweist wie immer auf eine dominierende Klasse. Auf der Suche nach den verlorenen Orientierungspunkten und Verhaltensmustern entwickelt das Volk eine tiefe Allergie gegen die Neue Klasse, die von der gemeinsamen Regelung, der sich die „Wenig-Besitzenden“ unterwerfen müssen, befreit zu sein glaubt und deren getrennte Lebensweise abseits des Volkes einen unwiderstehlichen Trieb offenbart, sich als „neue Nomaden“ von der Seßhaftigkeit zu verabschieden. Das bedeutet: Drang zu beständigem Wechsel, Ablehnung der Wurzeln, Verachtung der gemeinschaftlichen und tradierten Werte, rücksichtsloses Streben nach Profit, grenzenloses Laisser-faire, Faszination für die „Gewinner“.

Durch die neokapitalistische Globalisierung gekürt, bildete sich diese politisch-mediale Neue Klasse unter dem Einfluß einer Intensivierung der Mobilitäten heraus, in einem Klima der Deregulierung der Märkte und der technologischen Innovationen, die Zeit und Raum verkürzen. Sie vereinigt in einem Elitesystem des Reichtums und des Scheins gleichsam führende Politiker, Geschäftsleute und Medienvertreter, alle eng miteinander verbunden, alle überzeugt von der „Gefährlichkeit“ der Volksbestrebungen. (…)

Der sich auftuende Hauptgraben trennt nunmehr diejenigen, ob von rechts oder links, die von der Globalisierung profitieren, und diejenigen, die ihr zum Opfer fallen – diejenigen, die aus Völkersicht denken, und diejenigen, die nur Einzelindividuen und die Menschheit kennen wollen. Diese Kluft stellt das periphere, ländliche und das stark verstädterte Frankreich gegeneinander, das Volk und die globalisierten Eliten, die gewöhnlichen Menschen und die Neue Klasse, die Volksklassen und den im sozialen Abstieg begriffenen Mittelstand einerseits und die Arrivierten andererseits, die Anhänger der Grenzen und die Anhänger der „Öffnung“, die „Unsichtbaren“ und die „Allgegenwärtigen“: kurzum: die von unten und die von oben. Bei der derzeitigen wirklichen Trennlinie geht es um den Schutz des Volkes – um die Sache des Volkes. 






Alain de Benoist, Jahrgang 1943, französischer Philosoph und Publizist, ist Herausgeber der Zeitschrift Eléments sowie Chefredakteur der Zeitschriften Nouvelle École und Krisis.

Alain de Benoist: Der populistische Moment. Die Rechts-Links-Spaltung ist überholt. JF-Edition, Berlin 2021, gebunden, 407 Seiten, 24,90 Euro. Der hier veröffentlichte Text ist – mit freundlicher Genehmigung des Autors – ein adaptierter Auszug aus dem Buch.

Foto: Ein Graben tut sich auf mitten in den Nationen: Er trennt die Profiteure der Globalisierung und diejenigen, die ihr zum Opfer fallen; das Volk und die Eliten.