© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

Dorn im Auge
Christian Dorn

In diesen Zeiten abnehmenden Lichts, da die Lockdown-Lokomotive erneut unterwegs ist, dürfte das Lifestyle-Modell „Inneres Exil“ erneut Konjunktur haben. Jedenfalls erwische ich mich zu Hause bei der Lektüre der bereits vor über einem halben Jahrhundert erschienenen Science-fiction-Stories (Heft 18, Ullstein-Verlag) mit den Geschichten „Der UN-Mensch“ von Poul Anderson (1953) und „Die Venus-Hexe“ von Ray Bradbury & Leigh Brackett (1946). Der mir zufällig in die Hände geratene Titel schlägt dabei erstaunliche Brücken in die Gegenwart. So werden in der – an James-Bond-Narrative erinnernden – Geschichte vom „UN-Mensch“ futuristisch anmutende Pistolen in Anschlag gebracht, die in der Nahdistanz tödliche Pfeilprojektile verschießen – eine Technik, die an die neuerdings von der Polizei benutzten Elektroschock-Pistolen der Marke Taser erinnert. In der anderen Geschichte hat der Protagonist durch einen Postbankraub auf dem Himmelsritt, der ihn aus dem Raum-Zeit-Kontinuum katapultiert, eine mysteriöse Kassette mit einer Million Credits gestohlen, die den heutigen Leser unvermittelt an eine Bitcoin-Wallet denken läßt.

Als ich ansetzen will, fährt mir der Typ über den Mund: „Ich stech’ dich ab, du Idiot!“

Wirklich gefährlich ist dann aber doch das reale Leben vor der Haustür, das im letzten Winter in Berlins Boulevard-Blättern als „Glühwein-Strich“ skandalisiert worden war. In Erinnerung daran sind neuerdings Aufkleber angebracht, die von der Umbenennung der Straße durch die Gastronomen künden.

Als ich kurz nach Mitternacht auf dem Heimweg vor der verwaisten Außenbar der einstigen Fußballkneipe an der Tür ziehe, um noch nach einem Glas Glühwein zu fragen, merke ich, daß diese bereits durch eine Kette eingehakt ist – da sich dennoch jemand zur Tür bewegt, warte ich höflich, um mich zu erklären. Doch dazu komme ich gar nicht: Die offenbar unter Drogen stehende Figur von spindeldürrer Gestalt attackiert mich sofort verbal, ohne daß ich etwas verstehe – als ich endlich ansetzen will, fährt mir der Typ über den Mund: „Ich stech’ dich ab, du Idiot!“ Dostojewski-Lektüre hilft hier wirklich nicht weiter, rasch suche ich das Weite.


Bei Eiseskälte schreibe ich während der Tagesspiegel-Lektüre mit den zunehmend steifen Fingern einige Zweizeiler auf den Zeitungsrand: „Wohin willst du heut noch streben? / Lockdown heißt das Hundeleben.“ Doch der befreundete Gastronom hat schließlich Mitleid, versteckt hinter einem Vorsprung erhalte ich Exil, um mich mit Glühwein aufzuwärmen. Darauf bemerkt der Sohn des Gastronomen ebenso forsch wie treffsicher: „Siehst du Christian, so schnell wendet sich das Blatt: Jetzt bist du selbst Flüchtling.“