© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

Ich werde dich heimsuchen!“
Kino: Das Filmmusical „Annette“ ist ein Werk der Avantgarde, kommt aber schwer in Fahrt
Dietmar Mehrens

Es ist eine Nachricht, die im Boulevard einschlägt wie dereinst die von der Affäre zwischen Brad Pitt und Angelina Jolie: Der Komödiant Henry McHenry (Adam Driver) und die Sängerin Ann Defrasnoux (Marion Cotillard) lieben sich! Wenig später kommt Baby Annette zur Welt. Wieder überschlagen sich die Meldungen. Und erst recht nach dem Drama, das sich auf hoher See zuträgt und selbst das Ehe-Aus für das Traumpaar Pitt-Jolie an Tragik übertrifft: Als der betrunkene Henry bei starkem Sturm an Deck mit Ann tanzt, wird die bildschöne junge Mutter ein Raub der Fluten.

Es ist die Schlüsselszene des Films: Da Henry mitschuldig ist an dem tragischen Ereignis, macht ihr Anns Geist die trübe Verheißung: „Ich werde dich heimsuchen!“, und zwar als Geist, der in der Stimme ihrer Tochter wohnt. 

Tatsächlich offenbart die kleine Annette, optisch eine Mischung aus Pinocchio und Chucky, der Mörderpuppe, wie die Mama ein geradezu unheimliches Gesangstalent. Ihr erstes Video erreicht nach seiner Veröffentlichung im Netz 81 Millionen Klicks. Ein neuer Stern erstrahlt am Unterhaltungshimmel: Als Baby Annette erobert das Kind die Bühnen der Welt. Doch wie in Émile Zolas zeitlosem und oft kopiertem Verbrecher-Psychogramm „Thérèse Raquin“ (1867) wird Henry nach dem Todesfall zunehmend von seinen Dämonen gequält. Ein Mord, durch den er sich alle Sorgen vom Hals zu schaffen hofft, um sich ungetrübt im Glanz des Ruhms von Baby Annette sonnen zu können, besiegelt sein Schicksal: Ohne daß er es ahnt, wetzt die Nemesis bereits ihr Messer.

Das skurrile Drehbuch und die Musik stammen von den Sparks

Irgendwer muß die Filmbranche davon überzeugt haben, daß sich das Publikum in der kühlen Jahreszeit lieber von gesungenen Geschichten berieseln läßt als im Rest des Jahres. Nach der Broadway-Musicalverfilmung „Dear Evan Hansen“, einem Lamento über die Irrungen und Wirrungen der Generation Instagram (auch bekannt als Generation Regenbogen) und Steven Spielbergs fadem Neuaufguß der „West Side Story“ (JF 50/21), wird nun mit „Annette“ schon wieder ein Filmsingspiel auf die Zuschauer losgelassen, bei dem sich die Frage stellt, ob es nicht lieber zu Hause auf der Bühne geblieben wäre. Denn die Art und Weise, wie sich bei „Annette“ die verschiedenen Szenen vor wechselnden Kulissen aneinanderreihen, bedient eher die Sehgewohnheiten von Bühnenshow- als die von Lichtspielhausbesuchern. Adam Driver, aktuell im Kino auch als männlicher Hauptdarsteller in „House of Gucci“ (JF 49/21) zu sehen, überzeugt zwar als exzentrischer Künstler, doch der Handlung fehlen Ordnung und Stringenz.

Das skurrile Drehbuch stammt wie die Musik von Russ und Ron Mael, besser bekannt als Sparks und in diesem Jahr bereits Protagonisten einer Dokumentation, die vor ein paar Wochen in die Kinos kam (JF 41/21). Die beiden exzentrischen Musiker machen mit „Annette“ eine Enttäuschung aus dem Mittelbau ihrer Karriere wett, als nach Jahren der Vorarbeit ein aufwendiges Filmprojekt scheiterte. Mit Leos Carax fanden sie für ihren Stoff einen Regisseur, dem Scheu vor Experimenten jenseits der ausgetretenen Pfade des Kommerzkinos fremd ist. Das bewies er bereits mit seinem Melodram „Die Liebenden von Pont-Neuf“ (1991). 

Sucht man nach filmischen Vorbildern für den innovativen Mix aus Varieté und Singspiel, fällt einem am ehesten „Moulin Rouge“ (2001) von Baz Luhrmann an. Wie der wild inszenierte Revue-Film ist auch „Annette“ gespickt mit experimentellen visuellen Ideen und präsentiert sich als selbstbewußtes Werk der Avantgarde. Anders jedoch als Luhrmann, der von Anfang an Vollgas gibt, vergeht quälend viel Zeit, bis Carax seinen Rhythmus findet. Die erste halbe Stunde des Films ist ein Totalausfall: Viel zu lange verharrt die Kamera bei Henry McHenrys Bühnenshow „Der Affe Gottes“ und gibt mittelmäßigen Darbietungen des Komödianten, die man selbst auf Provinz-„Poetry Slams“ schon besser gesehen hat, provozierend viel Raum. Ein Rätsel, warum die Regie und das Drehbuch der Maels nicht lieber auf die Gesangskünste der von Marion Cotillard mit Mut zur Sinnlichkeit verkörperten Ann setzen, wenn sie schon Bühnenauftritte zeigen zu müssen glauben.

Es ist fast ein kleines Wunder, daß es Carax gelingt, das Ruder noch herumzureißen und das bereits auf gepflegte Langeweile eingestimmte Publikum wieder einzufangen. War es eben noch auf einer der schmucklosen Bühnen zu Gast, auf der Henry in einem potthäßlichen blaßgrünen Bademantel herumturnte und Witze riß, die sogar noch schlechter sind als die von Jan Böhmermann, darf es dem Komödianten und der Sängerin nun bei ihrem Liebesreigen zuschauen, in ihr Schlafzimmer und in den Kreißsaal folgen, ehe sich auf hoher See ihr tragisches Geschick erfüllt. Da erstrahlt der vormals blasse Film auf einmal in bunten Farben. Keine Sekunde zu früh.


Kinostart ist am 16. Dezember 2021