© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. KG www.jungefreiheit.de 51/21 / 17. Dezember 2021

Christentum für Dummies
Frankreich: Harsche Kritik an den Plänen zur neuen Innengestaltung von Notre-Dame
Karlheinz Weißmann

Am Freitag der vergangenen Woche wurde über die Pläne zur Wiederherstellung des Innenraums der Kathedrale Notre-Dame entschieden. Das vorliegende Konzept stammt von Pater Gilles Drouin, Liturgieexperte am Institut Catholique in Paris, aber die letzte Entscheidung hatte das Kulturministerium nach Expertenanhörung zu fällen. Abgesehen von kleineren Änderungen – im Hinblick auf die Sitzreihen und Statuen – will man sich an den Entwurf der Erzdiözese Paris halten. Das heißt nicht nur, daß die Besucher in Zukunft durch das Hauptportal eintreten, sondern auch, daß die ganze Organisation des Kirchenschiffs verändert wird. An die Stelle der zahlreichen Seitenkapellen und Beichtstühle sollen „Themenräume“ treten, an denen die Besucher auf „Parcours“ entlanggeführt werden. Die sind einzelnen Aspekten – vom Weltklima und der Not der „Dritten Welt“ bis zum Verhältnis der Geschlechter – gewidmet und sollen zusammen mit Videoinstallationen, eingeblendeten Bibelzitaten und einer Abteilung „Christentum für Dummies“ die „spirituelle“ Dimension Notre-Dames nicht nur für die Teilnehmer des Gottesdienstes, sondern auch für die durchschnittlich eine Million Touristen erfahrbar machen, die Monat für Monat kommen, um eines der berühmtesten Wahrzeichen Frankreichs in Augenschein zu nehmen.

Bis es wieder soweit ist, werden aber wohl noch fünf Jahre vergehen. Eine Perspektive, auf die man unmittelbar nach der Brandkatastrophe vom 15. Juni 2019 kaum zu hoffen gewagt hat. Damals gab es sogar Stimmen, die für den Abriß der Kathedrale plädierten. Sie sind rasch verstummt, und auch die Furcht, daß der Staat als Eigentümer und Emmanuel Macron als Präsident die Gelegenheit nutzen könnten, die Rekonstruktion der äußeren Gestalt mit irgendwelchen modischen Neuerungen zu verknüpfen, erwies sich als unbegründet.

Anders sieht es nach Bekanntgabe der Pläne zur Umgestaltung des Inneren aus. Gegenüber der britischen Zeitung Telegraph hat der Architekt Maurice Culot schon im November geäußert, daß „Disneyland Einzug in Notre-Dame“ halte. Man kapituliere vor den Regeln des Kommerzes und einer oberflächlichen Schau-Lust. Vergleichbares wäre für den Fall eines Großbrandes und anschließendem Wiederaufbau „nie in der Westminster Abbey oder in der Sixtinischen Kapelle geschehen“. Notre-Dame werde zu einer „Art Themenpark, der in Anbetracht der Erhabenheit der Stätte äußerst kindisch und trivial ist“.

Dieselbe Stoßrichtung der Argumentation findet man auch in einem offenen Brief, den der Journalist Stéphane Bern initiiert hat. Berns Stimme hat schon deshalb Gewicht, weil er – „der Retter Notre-Dames“ – unmittelbar nach dem Brand sehr erfolgreich zu Spenden für die Wiederherstellung aufgerufen hatte; in kurzer Zeit kamen mehr als 800 Millionen Euro zusammen. Der neuen Initiative Berns haben sich bereits zahlreiche französische Intellektuelle angeschlossen, darunter der Philosoph Alain Finkielkraut und der Historiker Pierre Nora. Im Text des offenen Briefes heißt es: „Das, was der Brand verschont hat, will die Diözese zerstören.“ Gemeint ist damit, daß die bauliche Struktur der Kirche „denaturiert“ werde und die Verantwortlichen auf seiten des Klerus die Absicht verfolgten, ein möglichst smartes, unanstößiges Bild der christlichen Lehre zu bieten, entgegen der Tradition, für die Notre-Dame steht.

Allzu ungebrochen darf man sich diese Tradition allerdings nicht vorstellen. Das hat vor allem damit zu tun, daß Notre-Dame niemals nur Gotteshaus war. Denn der seit der Mitte des 12. Jahrhunderts im neuen – „gotischen“ – Stil errichtete Bau diente einerseits den Bischöfen, dann Erzbischöfen von Paris als Hauptkirche, andererseits dem Hof als Pfarrkirche und dem Herrscher als „cathédrale royale“, als „königliche Kathedrale“, Schauplatz für das feierliche Te Deum nach dem Sieg französischer Truppen und die Begräbnisse hochgestellter Persönlichkeiten. Notre-Dame hatte außerdem die Funktion, die Marienfrömmigkeit der Könige zu demonstrieren – immer ein theopolitischer Akt –, und nach und nach füllte sich der Innenraum mit Stiftungen frommer Bürger, insbesondere Gemälden, die die Säulen bedeckten und alle möglichen christlichen Themen zur Darstellung brachten.

Diese Bilder zogen seit dem 18. Jahrhundert eine wachsende Schar von Besuchern an, die in erster Linie an Kunst und „Sightseeing“ interessiert waren, nicht an Notre-Dame als Gotteshaus. Ein übriges tat der Zeitgeist der Aufklärung. Aber den entscheidenden Bruch führte die Revolution herbei. Notre-Dame wurde in Staatseigentum überführt und säkularisiert. Dann befahl die Nationalversammlung die Umwidmung in einen „Tempel der Vernunft“, zuletzt in einen „Tempel des Höchsten Wesens“, zu dessen Ehren sogar ein seltsamer Mummenschanz als Gottesdienst veranstaltet wurde.

Erst nach dem Abschluß des Konkordates zwischen Napoleon als Vertreter Frankreichs und dem Kirchenstaat konnten wieder regelmäßig Gottesdienste in Notre-Dame stattfinden. Napoleon entschied auch, sich hier – nicht wie die Könige in Reims – zum Kaiser zu krönen. Ein einmaliger Akt, wie der Fortgang der Geschichte zeigte. Trotzdem ging die „charismatische Wirkung“ (Thomas Gaehtgens) Notre-Dames nicht verloren. Unvergessen ist der emphatische Aufruf des Schriftstellers Victor Hugo zur Rettung der von Verfall bedrohten Kathedrale und die „Vollendung“ des Gebäudes durch den Architekten und Restaurator Eugène Viollet le Duc. Bezeichnend auch, daß trotz der strikten Trennung von Staat und Kirche seit Beginn des 20. Jahrhunderts die „grands hommes“ der Dritten und Vierten wie die verstorbenen Präsidenten der Fünften Republik in der Kathedrale ausgesegnet wurden.

Es ist angesichts der gesellschaftlichen Entwicklung selbstverständlich zu fragen, ob Notre-Dame seinen Status auch in Zukunft bewahren wird. Aber die Schärfe des Protestes gegen einen „woken“ Umbau zeigt doch, daß es in Frankreich nach wie vor Reste an Widerstandskraft gegen die Entfremdung von allem gibt, was das nationale wie das europäische Erbe ausmacht.

Foto: Wiederaufbau der Kathedrale Notre-Dame in Paris: Kapitulation vor den Regeln des Kommerzes und einer oberflächlichen Schau-Lust